Wunden lecken nach der Wahl
Amerika nach den Präsidentschaftswahlen: Wohin gehen die USA? - Teil 1
Nun sind die Wahlen also geschlagen. Fragen bleiben - zum Verhalten des Präsidenten während und nach der Auszählung, zum Zustand der amerikanischen Demokratie, zu den Plänen der Sieger, zum Wahlmodus. Auffällig ist, dass diesmal viele traditionell republikanische Staaten erst in der Endphase der Auszählung knapp demokratisch wurden. Trump behauptet, das habe mit den Briefwahlen zu tun, die die wahren Verhältnisse verzerrt hätten. Und dass es dabei Unregelmäßigkeiten gab.
Die Briefwahlen haben offensichtlich das Gleichgewicht verändert - gerade in traditionell "roten" (republikanischen) Staaten. Republikaner nutzen sie eher nicht - auch weil der Präsident sie stets diskreditiert und vor den Wahlen der amerikanischen Post die Mittel gekürzt hat. Ironischerweise könnte das zum Ergebnis beigetragen haben.
Der Modus scheint also durchaus eine Rolle gespielt zu haben, wobei man nicht wissen kann, was ohne Covid-19 geschehen wäre, wenn mehr Menschen persönlich gewählt hätten. Das macht die Analyse nicht leichter - und verleiht Trump eine gewisse Munition für den von ihm geplanten weiteren Klageprozess bis zum Obersten Gerichtshof.
Könnten denn noch "alternative Fakten" auftauchen?
Darauf haben wir derzeit keine Hinweise. Faktisch wurde bislang nichts Wesentliches vorgelegt. Die OSZE-Beobachtermission hat keinen Betrug festgestellt. Auch gibt es bislang keine Hinweise, dass das Auszählungssystem via Computer das Ergebnis verändert hätte - also durch den Einsatz fehlerhafter Computersoftware manipuliert hätte.
Allerdings hat US-Justizminister William Barr eine offizielle Untersuchung der Betrugsvorwürfe zugelassen. Sein Untersuchungsauftrag beruht unter anderem auf der Tatsache, dass einzelne Regionen wie etwa Detroit seit Jahren Probleme mit regulärer Stimmenauszählung aufweisen. Auch Außenminister Mike Pompeo war noch eine Woche nach der Wahl davon überzeugt, dass Trump vor Gericht doch noch siegen würde.
Das Misstrauen Trumps und seiner Mitarbeiter gegen die Medien und jede Form von Objektivität hat sich auf den Wahlprozess übertragen. Aus ihrer Sicht ist Objektivität, sind Fakten immer und überall nur konstruiert, und zwar unvermeidlich - was vielleicht ihr wichtigster "intellektueller" Beitrag zur Zivilisationsdebatte gewesen sein wird. Fox News, der Sender, der am meisten mit Trump sympathisiert, behauptet in Gestalt seines populärsten Moderators Tucker Carlson, man habe zahllose Beweise für Unregelmäßigkeiten, die aber rein numerisch nicht für eine Umkehr des Wahlergebnisses ausreichten. Darunter seien tote und erfundene Personen, die gewählt hätten (von denen sich allerdings mehrere meldeten, dass sie durchaus noch lebten); aber auch die Auszählung von tausenden Briefwahl-Stimmen ohne republikanischen Beobachter, die verspätet um 4 Uhr früh angekommen und mitten in der Nacht ohne Zeugen zu 100 Prozent Biden zugeschrieben worden sein sollen.
Dem Moderator Carlson werden allerdings selbst Chancen auf eine Kandidatur 2024 oder 2028 zugeschrieben - dann möglicherweise gegen Bidens Vize Kamala Harris, von der er behauptet, sie werde jetzt schon die Schatten-Präsidentin und einflussreicher als Biden sein. Die erste Klage des Trump-Teams um Kayleigh McEnany und Rudy Giuliani in Michigan wurde in erster Instanz wegen Mangels an Belegen für die behaupteten Unregelmässigkeiten abgelehnt, eine zweite läuft. Jene in Pennsylvania, Wisconsin und Georgia ist im Gange. Sollte Trump abtreten müssen, erwarten ihn selbst mindestens sechs Verfahren ad personam wegen seiner Geschäftspraktiken, die wegen seiner Präsidentschaft ausgesetzt waren. Das macht ihm die Amtsübergabe nicht leichter.
Die Mobilisierung gegen Trump war vielerorts paradox: viele wollten nicht Biden wählen, sondern Trump abwählen
Das Biden-Lager darf bei aller Euphorie nach dem Sieg nicht vergessen, dass mehr als 70 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner auch nach vier Jahren erneut Trump gewählt haben.
Mit dem Sieg von Biden-Harris sind die tiefer liegenden Ursachen nicht beseitigt: Unzufriedenheit mit den Eliten und Parteien; emotionale Polarisierung hinsichtlich der Grundlagen des amerikanischen Geistes und der Zukunft des Landes, der daraus resultierenden Politik und Auslegung der Verfassung; zunehmende Ungleichheit mit immer weniger Gewinnern sowohl innerhalb der Bevölkerung wie geographisch zwischen den Landesteilen; Spaltung zwischen Küsten und Landesinnerem; ein wachsendes Lager von Globalisierungsverlierern und deshalb -gegnern vor allem im Landesinneren; ethnische, demographische und generationale Verschiebung mit Zunahme nicht-europäisch-stämmiger Bevölkerungsteile und Vorwiegen nicht-weißer Jugendlicher, die dem "self-reliance" System ablehnend gegenüberstehen und grundsätzliche Kapitalismuskritik verinnerlicht haben; und ein Erziehungssystem, das ideologisch weit links steht, aber so viel kostet, dass es immer mehr Mittelklasse-Angehörige ausschließt.
Das Vertrauen in Wissenschaft ist allgemein gesunken, wozu einerseits Trumps Verächtlichmachung und Mittelkürzung im Namen einer "Rache der Mittelklasse", andererseits aber auch die offene Parteinahme angesehener Wissenschaftsträger wie etwa des Magazins Nature zugunsten des Demokraten Joe Biden beigetragen haben. Das hat dazu beigetragen, dass sich auf allen Seiten das Gefühl verbreitete, dass faktisch alle Bereiche der Gesellschaft politisiert sind - es also keine neutrale, objektive Sphäre gebe, womit kein gemeinsamer Boden mehr besteht und nun "alles möglich ist".
Dazu kommt das wachsende Unbehagen an der Weltpolizistenrolle und das über die Jahre von den Medien, Amtsenthebungsverfahren und Abkommensaustritten gesäte Misstrauen gegen eine Außenwelt, die Amerika laut dieser Wahrnehmung "penetriert" und unsicher macht, als einen eher negativen Faktor darstellt, darunter gegen Russland, China und bis zu einem gewissen Grad auch Europa.
All das ist nicht neu: Es war bereits in vorherigen Wahlkämpfen Thema und hat sich mit der Zeit zugespitzt und im Ton radikalisiert. Wenn das Biden-Lager nun stolz behauptet, man habe "die blaue Mauer wiedererrichtet", was im Politikjargon den durchgängigen Gewinn der Bundesstaaten beider - traditionell liberalen - Küsten für die Demokraten bedeutet, dann ist die "Mauer"-Metapher nicht sehr hilfreich für die nun für jeden Fortschritt nötige Aussöhnung der Lager. Sie ist leider ein - wenn auch in Bidens Fall in Amerikas Politikrhetorik historisch verankertes - Echo von Trumps Mauer-Symbolik, die ja für seine Amtszeit prägend war. Die inneren Mauern sind mittlerweile hoch, aber mit ihrer Anrufung durch die Sieger wird Amerika nicht weiterkommen.
Haben jene Beobachter Recht, die sagen, das war die wichtigste Richtungswahl unserer Zeit - auch für die Zukunft der Demokratie?
Die höchste Wahlbeteiligung seit hundert Jahren und die Abgabe von mehr als 70 Millionen Stimmen für jeden der beiden Kandidaten spricht Bände darüber, wie stark die Amerikaner diese Wahl als Wegscheide zwischen zwei grundverschiedenen Wegen empfunden haben. Wenn die Trump-Jahre eines gebracht haben, dann ist es das Bewusstsein: Politik zählt.
Die Wahl fand tatsächlich zwischen zwei völlig unterschiedlichen Richtungsnahmen für Amerika statt: rechts gegen links. Jeder Amerikaner sah, dass dies heute zwei völlig unterschiedliche Szenarien sind - stärker als in vergangenen Jahrzehnten. Die Demokratie hat sich bereits seit den Terroranschlägen des 11. September, dessen langfristige Wirkung unter der Oberfläche noch immer unterschätzt wird, immer weiter aus der Mitte und damit an ihre Grenzen bewegt. Es ist nun auch in den USA eher wie in Europa ein veritables "rechts gegen links", nicht mehr ein "konservativ gegen liberal" allein unter einem gemeinsamen, wärmenden und schützenden Mantel einer Zivilreligion, die letztlich alle vereint. Beide Lager haben sich zunehmend radikalisiert. Auch deshalb ist "Jahrhundertwahl" zwar übertrieben, aber eine wichtige Wahl zwischen zwei verschiedenen Amerikas war es auf jeden Fall.
Deshalb überschlug sich statt politischem Diskurs die Kampfrhetorik auf beiden Seiten …
… und wer verlor war Amerika. Bidens Rede vom "Kampf um Amerikas Seele" war ebenso schädlich und unangemessen wie jene von Trump über eine angebliche Bidensche Sozialismus-Apokalypse und Wahlbetrug, den er bereits vor der Wahl vorauseilend behauptete, um sich vor seinen Anhängern gegen eine Niederlage abzusichern - auch dies völlig unamerikanisch.
Doch Amerikas Seele, verankert in seiner viel stärker als in Europa gelebten Zivilreligion, ist resistenter als viele meinen. Das hat gerade dieser Wahlvorgang bewiesen: Alle bezogen sich auf das "eigentliche" Amerika, ein Identitätsbezug, der in einem zivilreligiösen Humus verankert ist, wie er so in Europa kaum vorkommt. Wie es scheint, konnten weder Trump noch Biden trotz oft gewalttätiger Sprache viel daran ändern. Aber es wurden damit doch bleibende Wunden geschlagen, die nur schwer und langsam heilen werden.
Nach der Wahl leckt sich Amerika die Wunden
Mit Biden wird alles anders, meinen viele Europäer. Doch vor allem bei sozialen Themen ticken die USA so ganz anders als "wir hier". Siehe das Thema Krankenversicherung: Trump hat "Obamacare" eliminiert, Biden-Anhänger hoffen aber neue Maßnahmen. Ist das realistisch und welche sozialen Probleme könnte er wirklich - unabhängig von Wahlkampfrethorik - angehen?
Traditionelle soziale Themen haben im Wahlkampf eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Das liegt daran, dass niemand so recht zufrieden mit Obamacare ist: auch das Biden-Lager will das Programm reformieren. Die wichtigsten sozialen Probleme sind in der öffentlichen Wahrnehmung wie erwähnt wachsende Ungleichheit nun auch im unmittelbaren Alltag der US-Mittelklasse; Umgang mit der Globalisierung (Gewinner versus Verlierer: Küsten versus Innengebiete); aber auch Kampf um die Informationsherrschaft, einschließlich Faktenproduktion und -interpretation zwischen Silicon Valley-Firmen wie Facebook, Twitter oder Yahoo, Tageszeitungen wie der New York Post und Medien wie Fox News, Linksmedien wie CNN oder MSNBC und der Regierung; Waffenbesitz; und illegale Immigration samt Wegscheide zwischen Integration oder Ausweisung.
Letztere betrifft vor allem die Generation von 800.000 jungen Immigranten, die "Träumer" (dreamers), die im Alter unter 16 Jahren ankamen. Sie erhielten von Obama mittels eines Programms namens DACA (Deferred Action for Childhood Arrivals; deutsch etwa: "Aufgeschobene Aktion für Kinderankünfte") Arbeitserlaubnis und wurden vor Deportation geschützt, um sie zu integrieren. Trump hat dieses Tolerierungsprogramm im September 2017 beendet, wurde aber vom Obersten Gerichtshof im Juni 2020 an der tatsächlichen Beendigung und Deportation gehindert.
Bei all diesen Themen kann Biden neue Maßstäbe setzen: Ungleichheit durch ein neues Steuer- und Redistributionssystem kontrollieren und reduzieren, staatliche Ausgleichsmechanismen zwischen den Küsten und den Innengebieten schaffen, Firmen und Arbeit durch Anreize in die USA zurückholen, die Macht der Silicon-Valley-Medien etwa mittels Staatsklagen, Kartellverfahren und neuen Informationsgesetzen begrenzen, Waffenbesitz einschränken (vor allem automatische und Angriffswaffen), die Integration systemisch verbessern, die Außengrenzen schützen und das Migrations- und Asylrecht reformieren. Das meiste davon ist denn auch Teil seines Wahlprogramms gewesen.
Stichwort Rassismus und Polizeigewalt
Hier hat Trump auf Härte gesetzt und dem "Weißen Mann" den Rücken gestärkt. Tickt Biden hier wirklich gänzlich anders und wie? Außerdem: Es gibt Latinos und Afroamerikaner, die dennoch hinter Trump stehen … warum?
Biden ist in seiner 47-jährigen Politikergeschichte ähnlich wie Trump durch unangemessene oder gar rassistische Statements aufgefallen. Er galt auch immer als "Mann von der Straße", bietet seinen Diskussions-Kontrahenten und sogar seinen eigenen kritischen Wählern oft an, "hinauszugehen" und es mit den Fäusten zu regeln. Er ist im Grunde hemdsärmelig wie Trump, und seine Rhetorik ist nicht viel besser.
Latinos stehen in einigen Staaten - etwa in Florida - mehrheitlich hinter Trump, weil sie aus dem Süden, unter anderem Kuba, einwandern und für eine klare und harte konservative Linie einstehen, also fast immer republikanisch wählen. Außerdem spielt Religion eine Rolle, die meisten sind aktiv gläubig. Afroamerikaner erkennen in der Rhetorik des Biden-Lagers viel Oberflächlichkeit.
Schließlich haben die Obama-Jahre, mit Biden als Vizepräsident, ihre Situation nicht entscheidend verbessert, ja in mancherlei Hinsicht sogar verschlechtert. Denn man meinte, mit einem farbigen Präsidenten sei das Thema erledigt. Das Geschlecht spielte bei alledem auch eine Rolle: Frauen haben mehrheitlich Biden gewählt, Männer Trump. Vielleicht weniger wegen Biden, sondern eher wegen Harris.
Corona ist im Wahlkampf in den USA stark in den Hintergrund gerückt, trotz besorgniserregender Zahlen
Auf den Pressekonferenzen trugen Biden und seine Anhänger meist Masken, während CoV-19 im Weißen Haus offenbar kaum jemand interessierte und Experte Anthony Fauci "abgeschossen" werden sollte. Besteht hier die Möglichkeit auf einen grundlegenden Umschwung in der Corona-Politik?
Kaum. Biden hat nie erklärt, was er grundlegend anders als Trump machen würde. Seine "Expertenkommission" ist nur das Wiederaufwärmen dessen, was Trump bereits getan hat; "andere" Experten als Anthony Fauci können wenig anders machen, als mit einem neuen Präsidenten effizientere Logistik empfehlen.
Die USA sind (vor allem in ihrem Selbstverständnis) die freiheitsliebendste, offenste und dynamischste Gesellschaft der Welt. Sie wollen traditionell eher eine kleine Regierung (small government), die sich nicht in das Leben des Einzelnen einmischt. Daher sind sie in der Geisteshaltung am schwersten auf einen von oben verordneten Stillstand einzustellen. Einen totalen Lockdown kann sich Biden nicht leisten - obwohl einige Staaten wie Oregon oder New Mexico scharfe Restriktionen nach europäischem Muster eingeführt haben. Er kann aber die Zusammenarbeit mit den Bundesstaaten verbessern, das Weiße Haus anders führen und für mehr Bewusstsein bei den Amerikanern werben.
Das Problem ist, dass er in dem emotional aufgeheizten Klima die Wähler der Republikaner kaum von Maskentragen und Verhaltensänderung überzeugen wird können, weil diese ihm ohnehin nicht glauben und ihn nun, nach Trumps Klagen, auch noch für einen Wahlbetrüger halten. Letztlich hofft auch Biden auf die übliche "amerikanische Lösung": Technologie, also Impfung und Medikamente. Das war auch die "Strategie" Trumps, der als eine seiner Abschieds-Maßnahmen jedem Amerikaner die Impfung schenken will, um etwas für seinen Nachruf zu tun. Biden hat als Antrittsgeschenk ähnliches vor.
Wie geht es weiter? Wichtig ist die soziale Spaltung
Biden muss mit allen Mitteln versuchen, die soziale Spaltung in den Griff zu kriegen. So hat zum Beispiel die Mehrheit der US-Arbeiter mittels ihrer Gewerkschaften Donald Trump für die Wahl empfohlen, eindeutig und ohne Zweifel, weil sie glauben, er würde Arbeitsplätze nach Amerika zurückholen, indem er die US-Firmen dazu zwingt. Aus der Sicht der US-Arbeiterschaft hat Trump mit der Neuverhandlung des nordamerikanischen Handelsabkommens NAFTA mit Mexiko und Kanada bereits viele Arbeitsplätze zurückgeholt, und unter ihm war die Arbeitslosigkeit sehr niedrig, was natürlich wie immer auch eine verzögerte Folge der Obama-Wirtschaftspolitik war, von der Trump profitierte.
Die US-Arbeiter glauben, eine Einschränkung der Globalisierung würde sie schützen vor billigem globalem Wettbewerb - und das sollte Biden sehr ernst nehmen. Er hatte ja im Wahlkampf bereits Trumps Slogan "Kauft amerikanisch" übernommen und damit eine gewisse Kontinuität der Renationalisierung der US-Wirtschaft angedeutet, ebenso wie eine Fortführung der Abgrenzung gegen Chinas unlauteren Wettbewerb, aber das wird nicht reichen.
Dass die amerikanischen Arbeiter nicht demokratisch, sondern republikanisch, also nicht sozialdemokratisch, sondern konservativ wählen, ist eine der großen Fragen, die auf wichtige Tiefendimensionen in Amerikas System verweisen, die die Demokraten viel zu lange verdrängt haben - so zum Beispiel den Zusammenhang zwischen Arbeiterschaft und Identitätsbedürfnissen in einer Leitkultur. Die Lügen des Biden-Lagers, das auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs behauptete, die Arbeiter-Gewerkschaften hätten ihn unterstützt, haben ihm weniger geschadet als erwartbar - ebenso wie die Lügen und Kehrtwendungen betreffend Öl-Industrie und Fracking vonseiten der Demokraten.
Das hat auch mit den traditionell Demokraten-affinen "Mainstream"-Medien wie CNN oder New York Times zu tun, die Biden vor der Verbreitung und Vertiefung dieser und anderer Angriffspunkte wie den Geschäften seines Sohnes Hunter mit China und in der Ukraine faktisch geschützt haben, um seine Wahl zu sichern. Dazu gehört aber auch die Auswahl der Fragen etwa bei der zweiten Präsidentschaftsdebatte am 22. Oktober an der Belmont Universität. Dabei wurden von den NBC-Verantwortlichen um Journalistin Kristen Welker Felder, auf denen Trump hätte reüssieren können, wie Wirtschaftspolitik, illegale Immigration, Arbeitsplätze oder Aspekte der Außenpolitik (China, Naher Osten, Afghanistan, Rückholung von Truppen) kurz vorher eher einseitig zugunsten Bidens verworfen - und die Diskussion auf wenige Schwerpunkte einschränkt: darunter vor allem die Coronavirus-Krise, die Umweltkrise und Identitätspolitiken, wo Trump nicht gewinnen kann.
Und dazu gehören schließlich auch die Zensurvorwürfe gegen Twitter und Facebook, die Meldungen der altehrwürdigen, Trump zugetanen und von "Gründervater" Alexander Hamilton mit gegründeten "New York Post" bannten, die über den Hunter Biden Skandal veröffentlichten, indem sie sie als "fake news" kennzeichneten, was Twitter später - als der Wahlkampf geschlagen war - als "Fehler" bezeichnete und rückwirkend zurücknahm.
Dazu gehört schließlich auch der Zweifel an Google, das angeblich einige Zeit vor der Wahl seine Suchalgorithmen wie periodisch üblich anpasste, worauf aber offenbar bei Biden mutmaßlich mehrheitlich positive, bei Trump negative Ergebnisse erschienen. Ob dies der Fall ist oder nicht: hier sind in den kommenden Jahren Fragen über Mechanismen angebracht, die in Zukunft Wahlen mit beeinflussen und damit einen ungebührlichen Einfluss der Medien auf die Demokratie anzeigen oder zumindest darstellen könnten.
Amerikas Spaltung findet auf verschiedenen Feldern statt und hat vielfältige Ursachen
Nur eine vertiefte, parteipolitisch neutrale und interdisziplinäre, institutionenübergreifende und gesellschaftlich inklusive Arbeit durch den neuen Präsidenten daran kann die Dinge verbessern.
Kritiker sprechen seit Jahren davon, dass die Medien - bei allen Versuchen zu Objektivität - auf allen Seiten Einschaltquoten brauchen und daher politische Konflikte zuspitzen und verschärfen, sich zudem immer stärker von Fakten- zu Meinungsmedien wandeln und sich im Gefolge des Trends zur Blasenkommunikation, die die Sicherung vertrauter Konsumenten-, Seher- und Hörergruppen notwendig macht, zunehmend auf politische Seiten stellen.
Durch ihre Mitwirkung an Grundsatzdifferenzen tragen sie zur wichtigsten Entwicklung in den USA bei: der Unterminierung des gemeinsamen Sinns für nationale Identität, der an der Grundlage der US-Zivilreligion liegt und traditionell das stärkste Bindeglied des Landes war. Zwar ist die Rede von Wissenschaftlern wie Steven A. Cook - wie im angespannten Klima heute oft der Fall - weit übertrieben, während dieses Verlusts an geistiger Einheit jenseits von Ideologien nähere sich Amerika einer "irakischen Zukunft". Aber die Warnsignale waren gerade bei dieser Wahl nicht zu übersehen.
Die Medien sind im Gefolge der vierten technologischen Revolution vor allem in den USA längst von der "vierten Macht" zu einer gleichbedeutenden, wenn nicht gar wichtigsten politischen Macht geworden. Sie sind längst mindestens gleich einflussreich für Wählerverhalten und Richtungnahme der Demokratie wie die Parteien und Institutionen. Das ist von der US-Verfassung so nicht vorgesehen, die sie eher als Plattform der Transparenz und Rechenschaft ansah, nicht als politische Akteure, die ihren kontextpolitischen Auftrag mehr oder weniger offen überschreiten.
Das muss zu denken geben, auch wenn die Medien im höchst ausgeklügelten "check and balance" System von Anfang an eine Rolle gespielt haben. Jetzt aber entfalten sie massiven direkten Einfluss, nicht zuletzt durch soziale Medien und das Verhalten von Alogrithmen zum Beispiel in Suchmaschinen. Das US-Parlament hat deshalb in den vergangenen Jahren wiederholt die Leiter der wichtigsten Silicon Valley Medienunternehmen wie Facebook, Twitter oder Google für den Gebrauch von Algorithmen, Software und faktischer Zensur mit politischer Wirkung unter Verhör genommen (congress hearings).
Facebook CEO Mark Zuckerberg bezeichnete bereits bei einem Kongresshearing im April 2018 Silicon Valley als "extrem linksgerichteten Ort", was auch ihm im Hinblick auf die politische Ausgewogenheit "Sorgen bereite". Twitter CEO Jack Dorsey gab bei einem Hearing Ende Oktober 2020, also wenige Tage vor der Wahl, zu, dass man die "New York Post" an der Verbreitung von Meldungen über angebliches Fehlverhalten von Biden-Sohn Hunter zensiert und dies später als "unangemessen" zurückgenommen habe, ebenso wie alle, die diese Meldungen weiterleiten wollten, darunter auch Kongressabgeordnete.
Auch dieser Aspekt: die offene Parteinahme praktisch aller Medien, auch der angeblich "neutralen" und "faktenbezogenen", vor allem aber der Informationsgiganten im Silicon Valley, für eine der beiden Seiten mit Totschweigen nicht ins Bild passender Aspekte gehört jedenfalls zu einer der ganz großen Herausforderungen, die Biden im Interesse Amerikas angehen wird müssen - wenn es auch eher nicht in eigenem Interesse erfolgen wird.
Wer das nicht besser und vor allem im Detail reguliert, setzt die Spaltung fort, weil mindestens die Hälfte der US-Bevölkerung entweder nur noch "ihre" Blasenmedien verfolgt und insgesamt das Vertrauen in Objektivität und Neutralität von Medien und Information an sich verloren hat. Das ist in dieser Form einmalig in der US-Geschichte. Es ist keineswegs nur, aber auch eine Folge des Aufstiegs gigantischer Medienkonglomerate und eine der maßgeblichen Wurzeln des US-Populismus und der amerikanischen Spaltung.
Die Spaltung wird auch durch elitäre und exklusive Praktiken und Mechanismen des Erziehungs- und Hochschulbereichs verstärkt
Zum Erziehungs- und Hochschulbereichs haben immer weniger Amerikaner Zugang. Er hat sein eigenes, von Regierung und Institutionen fast unantastbares Imperium errichtet. Das macht ihn zur "fünften Macht", die von der Verfassung so ebenfalls nicht vorgesehen ist.
Weil der Erziehungsbereich wie jener der Medien fast durchgängig den Demokraten anhängt und sich auch in dieser Wahl offen auf die Seite Bidens gestellt hat, ist auch hier der Spaltungseffekt enorm. Kritiker wie der konservative, Republikaner-nahe Harvard- und Stanford-Professor Niall Ferguson beklagen bereits seit Jahren ideologische Vereinseitigung, sodass die Kultur "an den Unis" besage: "Als Rechter bist du ein potenzieller Nazi. Kommunisten hingegen sind moralisch einwandfreie Sozialdemokraten."
Das ist übertrieben, verweist aber auf mittlerweile stark politisch gewordene Paradigmen- und Verdrängungskämpfe. Princeton- und Stanford-Professor Stephen Kotkin spricht von einer grundlegenden Schwierigkeit, heute akademisch eine Stellung in der Mitte zu finden. Die medial sorgfältig inszenierten Auseinandersetzungen von Trump mit Harvard oder Princeton um als "Geschenke" erhaltene China-Gelder, um systemischen Rassismus auf dem Campus, um den Rückzug des Namens von Woodrow Wilson im Gefolge der Rassismus-Proteste, aber auch um "betrügerisch" eingezogene Corona-Hilfsgelder, die für Arbeiter bestimmt waren, waren davon nur ein genau berechneter äußerer symbolischer Abklatsch - der aber bei vielen Amerikanern ins Herz traf.
Das zeigte, dass die traditionelle Reputationskultur der Eliten, die sich an unangreifbaren Institutionen wie den US-Eliteuniversitäten mit ihren, wie im Fall Harvard, mehr als 40 Milliarden Stiftungsvermögen verankert, nicht mehr funktioniert und mittlerweile wegen ihrer Herrschaftsallüren, gepaart mit Unerreichbarkeit, genauso viel Widerstand erfährt wie Anerkennung. Damit ist der US-Erziehungsbereich zu einem Feld und Modellfall der sozialen und gesellschaftlichen Spaltung geworden.
Die Spaltung verläuft im übrigen auch innerhalb der Familien. So gab es bei dieser Wahl gab es einen "generational divide" wie selten zuvor - beispielhaft etwa unter asiatischen Einwanderern. Während etwa die vietnamesische Elterngeneration, die traditionell republikanisch ist, geschlossen Trump wählte, wählten ihre Kinder, die oft mit überdurchschnittlichen Leistungen das US-Erziehungssystem durchlaufen, praktisch geschlossen Biden. Die Spaltung zieht sich also durch alle Bevölkerungsteile und weist verschiedene Ebenen, Felder und Schattierungen auf.
Und das heisst?
Der Wahlsieger Biden ist insgesamt gut beraten, neben neuen Expertengruppen zu Corona und anderen sozialen Einzelherausforderungen auch eine Expertengruppe zur sozialen Polarisierung der USA einzusetzen. Diese sollte inter- und transdisziplinär besetzt sein - und sogar seine wichtigste sein, die sein ganzes Augenmerk hat.
Biden wird voraussichtlich schon wegen seines Alters nur eine Übergangsfigur sein, und er wird das Szepter nach einer Amtszeit voraussichtlich einer weiblicheren neuen Generation der Demokraten übergeben. Trotzdem (oder gerade deshalb) könnte eine - politisch möglichst neutrale - Arbeit an den tieferen systemischen, ideologischen und politischen Ursachen der "zwei Amerikas" und die Findung langfristiger Entwicklungspolitiken dazu aus der Sicht der Späteren sein mit Abstand wichtigstes Erbe sein.
Teil 2 folgt: Das Vermächtnis Donald Trumps
Roland Benedikter ist Forschungsprofessor für Multidisziplinäre Politikanalyse in residence am Willy Brandt Zentrum der Universität Wroclaw-Breslau und Co-Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research Bozen. Homepage. Kontakt: roland.benedikter@eurac.edu.