Wunder in Eurovision
Das Champions-League-Finale als Gottesbeweis
Mit den Gottesbeweisen ist es spätestens seit Immanuel Kant so eine Sache. Was aber den Fußballgott betrifft, herrscht nach dem Istanbuler Champions-League-Finale zwischen dem AC Milan und dem FC Liverpool vom Mittwoch Klarheit: Er ist nicht nur vorhanden, sondern produziert auch Wunder in Eurovision.
Nachdem Liverpool einen im Profifußball eigentlich aussichtslosen Rückstand von 3:0 zur Halbzeit mit drei Toren in sechs Minuten ausgeglichen hatte, sich stehend k.o. durch die Verlängerung rettete und dann im Elfmeterschießen gewann, überschlagen sich selbst ansonsten zurückhaltenden Medien "Das Wunder von Istanbul – aus dem Tal des Todes zum Titel" titelt die Londoner "Times", BBC spricht spricht vom "größten Cupfinale aller Zeiten" ("From agony to ecstasy, the zeroes became heroes") und Spaniens "El País" wurde gar Zeuge eines Wunders, einer "Legende des Fußballs, denn es geschah all das, was eigentlich nicht geschehen konnte".
Schon in der ersten Minute schienen mit dem 1:0 schienen alle Chancen dahin – italienische Teams sind vor allem Abwehrbollwerke, berüchtigte 1:0-Gewinner, die einmal in Führung den "catenaccio" (Riegel) vorschieben. Als bis zur Pause noch zwei weitere Tore für Mailand fielen, war die Sache gelaufen – eines der einseitigsten Endspiele seit langem, so schien es.
Welches Mirakel die Liverpooler "Reds" dann auf dem Rasen vollbrachten, drückt sich vielleicht am Besten in der Quote der Online-Buchmacher aus, die zur Halbzeit sagenhafte 350:1 betrug – wer da den Glauben noch nicht verloren hatte, konnte also schnell reich werden. Aber wer glaubt schon an drei Tore in sechs Minuten. Eigentlich endete das Spiel 114 : 6 für Mailand, denn außer in diesem magischen sechs Minuten machten allein die Italiener das Spiel - aber sie schossen kein Tor mehr. Und Jerzy Dudek, der im Spielverlauf ziemlich unsichere polnische Torwart Liverpools, wurde zum Matchwinner: mit zwei Blitzreaktionen kurz vor Schluss rettete er das Unentschiedenen – und machte die gegnerischen Elfmeter-Schützen dann mit nie dagewesenen Hampelmannübungen nervös. Der erste Milanese versemmelte den Ball in den türkischen Abendhimmel, zwei weitere Elfer konnte der hampelnde Keeper halten und dann war das Unglaubliche geschehen. Wie Dudek konnten es auch alle anderen kaum fassen: "Irgendwer da oben hat uns gerettet."
Hätte Dudek mit dieser metaphysischen Interpretation Recht, müssten die gläubigen Italiener und alle Mailand-Fans zu Atheisten mutiert sein – aber der Fußballgott, dessen gnadenreiches Obwalten am Mittwochabend in all seiner Pracht zu bewundern war, ist keiner, der für irgendeine Seite Partei ergreift. Gerettet hat Liverpool sich selbst, mit echtem "Tierpark-Fußball – Laufen wie die Hasen und Kämpfen wie die Löwen" (Jürgen Klopp), sowie mit einem verrückten Panther auf der Linie. Der Fußballgott bereitet nur das Feld, in dem das Unkontrollierbare, die Kugel, ihren Lauf nehmen kann: 10 mal 11 Meter lang, 6 mal 11 Meter breit, 2 mal 11 Spieler und die Entscheidung im Elfmeterschießen.
Die magische Zahl Elf steht dabei für E-galité (Gleichtheit),L-iberté (Freiheit) und F-raternite (Brüderlichkeit) – was vom zutiefst demokratischen Geist des Fußballgottes zeugt und schon andeutet, dass er mit autoritären Himmelsherrschern nicht allzuviel am Hut hat. Zumal die Elf nach christlicher Interpretation als teuflische Zahl der Maßlosigkeit und Sünde gilt, sie überschreitet die Grenze, die man mit zwei Händen abzählen kann, die zehn Gebote. Weil diese Grenzen weltlicher und kirchlicher Autorität im Karneval überschritten werden, ist die Elf die Zahl der Narren – und des Fußballsgottes, der solche Grenzüberschreitungen nicht nur am Rosenmontag, sondern an jedem anderen Tag ermöglicht. Indem er jene "heiligen" Spielfeldgrenzen, ein großes und ein kleines Viereck, und einfache Regeln setzt, die vor allem die auf zehn fixierten Hände zum Tabu erklärt. Zu dieser genialen Schöpfung des Fußballgottes vermerkt selbst das christliche "kath-net" anerkennend:
Die Grenzen des Fußballfeldes sind weitgehend unüberwindbar, nur die Tore lassen eine Lücke. Wenn es gelingt, diese Grenze zu überschreiten, stellt sich unmittelbar bei Spielern und Zuschauern ein besonderes Glücksgefühl ein. Daher hat der Fußball nicht nur mit unserem Können etwas zu tun, sondern auch mit unseren Hoffnungen, nämlich die vorhandenen Grenzen zu überwinden.
Hier wird schon etwas von der Philosophie des Fußballgottes spürbar, die Reinhold Beckmann und Sven Böttcher in ihrem eben erschienen Buch "LiebesLeder – Der Ball von allen Seiten" (Heyne-Verlag) in engen Zusammenhang mit der magischen 11 bringen:
Elf Freunde sollt ihr sein. Das ist kein leeres Wort. Es ist nur falsch niedergeschrieben. Richtig heißt es: Elf-Freunde sollt ihr sein. Denn andernfalls werdet ihr großes und kleines Viereck nie begreifen Lernen. Harmonie und Widerstreit, Himmel und Hölle, Ying und Yang, Ding und Dong, das ewige Thema des Lebens das ist die tiefere Bedeutung des großen und kleinen Vierecks, das ist die Bedeutung der 11.
Nicht nur mit ihrer Anspielung auf den taoistischen Fußballlehrer Giovanni Trappatoni - "Fußball ist Ding Dang Dong. Es gibt nicht nur Ding." -, sondern auch noch mit vielen weiteren Zitaten sind die Autoren der tiefen Weisheit des Fußballgottes auf der Spur. Es mag auf den ersten Blick unfair erscheinen, einem nach 90 Minuten ausgelaugten Ballkünstler das Mikro hinzuhalten und auch noch intellektuelle Brillanz zu erwarten, aber selbst die verbalen Pfostenschüsse der Kicker offenbaren noch ihren tieferen Sinn. Wenn etwa ein Berti Vogts verkündete: "Die Breite an der Spitze ist dichter geworden", weswegen gelte: "Der Tabellenführer kann jederzeit den Spitzenreiter schlagen", dann gemahnt dies durchaus an die aus dem Zen bekannten Paradoxa.
Wie ja auch schon der Neo-Banalismus eines Sepp Herberger - "Der Ball ist rund" – mittlerweile der Heideggerschen Existenzphilosophie zugeordnet wird, so könnte auch der Ausrutscher des Stürmers Bruno Labbadia: "Das wird alles von den Medien hochsterilisiert" als medienkritischer Aphorismus gelten, denn außer sterilem Zeug kochen die Medien tatsächlich nichts mehr hoch. Und was den Leverkusener Wahrnehmungspsychologen Jens Novottny betrifft - "Wenn man zu früh auf andere schaut, vergisst man, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren" - darf dies durchaus als zeitgenössische Formulierung des quantenphysikalischen Beobachterproblems gelten.
Während also aus den erschöpften Körpern der Kicker durchaus das kollektive Unbewusste des allweisen Fußballgottes spricht, tönt aus den erschöpften Geistern von Intellektuellen gerne Unfug. "Die Angst des Torwarts beim Elfmeter" konnte etwa Peter Handke seinerzeit einen Roman betiteln, ohne sofort des Feldes verwiesen zu werden, denn der Torwart muss natürlich – siehe Dudek - keinerlei Angst haben, sondern die hat ausschließlich der Schütze. Aber der ahnungslose Handke dichtete weiter und vermerkte später: "Der Fußball hat von Natur keine Seele" – ein Satz, der spätestens seit dem Match vom Mittwoch definitiv als Blasphemie zu gelten hat. Denn dort offenbarten sich nicht nur Leben, Lust, Leidenschaft, Herz und Schmerz, sondern auch Geist und Seele. Nicht nur, weil am Ende die "Richtigen", die "proletarischen" Underdogs gegen den Bonzenklub Berlusconis, gewannen. Das Drama als Gesamtkunstwerk deutete vielmehr auf jene Transzendenz, die Überwindung des Materiellen, die einst schon der Stürmerstar George Best ausdrückte: "Ich habe viel von meinem Geld für Alkohol, Weiber und schnelle Autos ausgegeben... Den Rest habe ich einfach verprasst." Von Bill Shankly, dem einstigen Manager des FC Liverpool, wurde dies jedoch auf den Punkt gebracht:
Beim Fußball geht es nicht um Leben und Tod. Es geht um mehr.