Wurde eine Demokratin zur Islamistin gemacht?

Nach massiver Kritik wird Nurhan Soykan nun doch nicht Beraterin des Auswärtigen Amts. Man hat der Muslimin unter anderem Antisemitismus und Islamismus vorgeworfen. Doch es gibt Zweifel

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Die Freude vieler Muslime, dass neben einem Pfarrer und einem angehenden Rabbiner, nun auch eine Muslimin ins Beraterteam des Auswärtigen Amts aufgenommen werden sollte, währte nur kurz.

Nachdem ein Vertreter des Ministeriums am 20. Juli die Berufung Nurhan Soykans in die Abteilung "Religion und Außenpolitik" bekanntgab, folgte am Mittwoch der Rückzieher.

Islamistin? Antisemitin? Genozid-Leugnerin?

Der Entscheidung vorausgegangen waren massive Vorwürfe gegen die Generalsekretärin des "Zentralrats der Muslim" (ZMD). In Interviews, Stellungnahmen, Offenen Briefen und Petitionen hatten Kritiker Soykans das Auswärtige Amt aufgefordert, die Berufung rückgängig zu machen. Von einem "regierungsamtlichen Kotau vor dem Islam", tweete AfD-Vize Beatrix von Storch.

"Warum holt Heiko Maas Graue Wölfe in das Auswärtigen Amt?", fragt das rechtskonservative Blog "Tichys Einblick". Unter der Überschrift "Diesmal nicht, Herr Maas!" bezeichnete die Gründerin des Zentralrats der Ex-Muslime, Mina Ahadi, Nurhan Soykan als Teil einer Bewegung, die eine "Politik des Terrors, der Einschüchterung, Ermordung und Massakrierung von Menschen" betreibe (gemeint ist der Islam, die "islamische Bewegung").

Auch in Medien wie Die Welt und Der Tagesspiegel wurde die Entscheidung des Auswärtigen Amts kritisiert. Die Kritik reichte von Islamismus-Anschuldigungen gegenüber Mitgliedsverbänden des "Zentralrats der Muslime" bis hin zum Vorwurf, Soykan habe den Völkermord an den Armeniern verharmlost.

Der gewichtigste und wahrscheinlich folgenreichste Vorwurf war aber jener, der Soykan in die Nähe des Antisemitismus brachte. Der Tagesspiegel schrieb beispielsweise, Soykan habe in einem Interview aus dem Jahr 2014 "die Al-Quds-Demonstrationen verteidigt, die von Hassparolen und judenfeindlichen Stereotypen geprägt sind." Die Jerusalem Post machte aus derselben Geschichte die Überschrift: "Deutsches Ministerium stellt Islamistin ein, die die Zerstörung Israels verteidigt".

Auch der 2010 gegründete Liberale Islamische Bund (LIB), der sich als Gegengewicht zu den großen als konservativ wahrgenommenen Islamverbänden betrachtet, wandte sich schließlich gegen die Berufung Soykans und gab damit womöglich den Ausschlag für den Rückzug des Auswärtigen Amtes. In einem am Dienstag veröffentlichten Offenen Brief schreibt die LIB-Vorsitzende Odette Yilmaz:

Mit großem Befremden und Unverständnis haben wir jedoch zur Kenntnis genommen, dass die muslimische Besetzung der Abteilung mit Frau Nurhan Soykan erfolgt ist. Hiergegen möchten wir mit aller Entschiedenheit unseren Protest zum Ausdruck bringen.

Odette Yilmaz

Nurhan Soykan hat die Al-Quds-Demo nie verteidigt

Neben Islamismus-Vorwürfen gegenüber Mitgliedsverbänden des "Zentralrat der Muslime" greift auch der LIB den Vorwurf auf, Soykan habe die israelfeindlichen Al-Quds-Demo verteidigt. Dies hat Soykan allerdings nie getan.

Im fraglichen Interview mit Deutschlandfunk vom 25. Juli 2014 ist zwar eingangs auch der Al-Quds-Tag Thema, Soykan bezieht sich in ihren Antworten allerdings durchweg auf die damals ebenfalls stattfindenden Proteste gegen Israels Krieg in Gaza.

An einer Stelle antwortet Soykan, man müsse "vor allem den Jugendlichen und den jungen Leuten in Deutschland, die sich auf diesem Weg der Demonstration Luft machen wollen und ihren Ärger auch mal zeigen wollen (…) auch die Möglichkeit geben, das äußern zu können".

Dieses Zitat führen Kritiker als Verharmlosung der Al-Quds-Demos an. Doch auch hier kommentiert Soykan nicht den Al-Quds-Tag in Berlin, sondern die in vielen Städten stattfindenden Demos gegen Israels Krieg in Gaza. Unerwähnt lassen Soykans Kritiker auch, dass Soykan an mehreren Stellen im Interview Kritik an Parolen und Verhalten der Demonstranten äußert:

Was ich da gehört habe, was da für Parolen gerufen worden sind, das hat mich auch sehr traurig gemacht, und ich finde, das schickt sich nicht. Das ist natürlich niveaulos und ich rufe heute noch mal unsere muslimischen Geschwister auf, das zu unterlassen. Sie sollen sich benehmen, wie es einem Muslim gebührt, und dazu gehört nicht, dass man Angehörige anderer Religionen beleidigt oder irgendwelche Diffamierungen vornimmt. Da sollen sie sich wirklich auf das allgemeine Benehmen konzentrieren und Zurückhaltung üben.

Nurhan Soykan

Eine Aussage, die sich in irgendeiner Weise als Relativierung des Existenzrechts Israels verstehen lässt, wie es die Jerusalem Post behauptet, findet sich in dem Interview ebenso wenig wie in Soykans sonstiger Biographie.

Warum kommt die Kritik erst jetzt?

Wie das Interview im Deutschlandfunk Kultur sind die meisten der Quellen, auf die sich Kritiker berufen, bereits mehrere Jahre alt. Merkwürdig erscheint deshalb, dass viele jener, die Soykan nun als Persona non grata markieren, bisher kein Problem mit ihrer Arbeit hatten.

Dabei saß Soykan auch immer wieder mit Behörden und Vertretern anderer Religionsgemeinschaften und muslimischer Organisationen an einem Tisch, so zum Beispiel als Teilnehmerin der Deutschen Islamkonferenz, Mitglied in der interreligiösen Arbeitsgemeinschaft Religion und Integration (ARI) des Landes NRW und Sprecherin des Koordinationsrats der Muslime.

Betrachtet man Soykans Engagement genauer, lässt sich nach Auffassung des Autors wenig Problematisches finden. Im Gegenteil die Vita der Kölner Rechtsanwältin ließ sich eher wie das Musterbeispiel einer ehrenamtlich engagierten Demokratin. Im männerlastigen Umfeld islamischer Interessenvertretung gehört sie zu den wenigen Frauen in einer wichtigen Position. In Interviews, Pressemittlungen und auf Podien warnt sie vor Salafisten und verurteilt islamistische Terroranschläge ebenso wie zunehmende Islamfeindlichkeit.

Auch der Liberale Islamische Bund, der nun Nurhan Soykan und dem Zentralrat der Muslime unter anderem die Duldung "rechtsextremer, islamistischer und antisemitischer Ideologien" sowie "Kriegsverherrlichung" vorwirft, hatte in der Vergangenheit wenig Berührungsängste. So arbeiteten LIB und ZMK bei der vom Bundesinnenministerium Deutschen Islamkonferenz zusammen.

Auch beim Gesprächskreis Christen und Muslime des Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) sitzen Vertreter von LIB und ZMD an einem Tisch. Auch als der Liberale Islamische Bund am 30. Mai dieses Jahres sein zehnjähriges Bestehen feiern wollte, hatte er offenbar noch keine Probleme mit Vertretern des Zentralrats der Muslime und lud sie zur Veranstaltung ein.

Dass diese schließlich abgesagt werden musste, lag nicht am vermeintlichen Islamismus oder Antisemitismus einzelner Gäste, sondern an der weltweiten Corona-Pandemie.