Zahlen sind alles
Apple und die Datenmedizin
Beim jüngsten "Spring Forward"-Ereignis hatte Apple zwischen all dem faszinierenden und dem weniger faszinierenden Spielzeug überraschenderweise der evidenzbasierten Medizin ein Angebot zu machen: ResearchKit, ein Entwicklungstool, mit dem man ernstzunehmende Apps für klinische Studien entwickeln kann.
Klinische Studien: Seit den Skorbut-Versuchen von James Lind sind sie das wichtigste Mittel des medizinischen Fortschritts. Natürlich können sie frisiert und für alles Mögliche missbraucht werden, so zum Beispiel für die Simulation wissenschaftlicher Respektabilität, die gar nicht vorhanden ist (Das Netz als Sieb).
Aber gut geplante und ehrliche Studien sind bei der Prüfung der Qualität von medizinischen Verfahren und von Medikamenten unverzichtbar. Das gilt natürlich auch für die Behandlung und Überwachung chronischer resp. degenerativer Krankheiten, bei denen es nicht so sehr auf die kurzfristige Wirksamkeit von Therapien ankommt, als auf die Sicherung der Lebensqualität Betroffener über eine lange Zeit, manchmal über Jahrzehnte hinweg. Bei manchen lang anhaltenden Problemlagen geht es auch um Vorsorge, die das Eintreten einer bestimmten Krankheit verhindern oder verzögern soll, oder die Nachsorge, die Rückfälle ausschließen oder abschwächen soll.
Apps für Asthma, Parkinson, Brustkrebs, Diabetes und Herzkreislaufkrankheiten
Ob die Reaktionen auf all diese medizinischen Grundkonstellationen sinnvoll sind, erfährt man durch Studien. Und der Wert dieser Studien steht und fällt wiederum mit der Quantität und der Qualität der Daten, die sie generieren. Eine chronische Klage von Medizinern in diesem Zusammenhang ist, dass Studien mit zu wenigen Teilnehmern arbeiten, und dass diese Teilnehmer zudem aus viel zu homogenen gesellschaftlichen Gruppen stammen.
Eine Studie ist aber umso relevanter, je enger die Teilnehmer einen repräsentativen Querschnitt der Gesamtbevölkerung darstellen. De facto sieht es leider bis heute oft so aus, dass Wissenschaftler per Anzeigen, Aushangzetteln oder mit anderen antiquierten Methoden nach Teilnehmern suchen, und was sie auf diese Weise erhalten, ist nur allzu oft ein Müsli mit viel zu vielen Rosinen, Haselnüssen oder Haferflocken.
Apple glaubt nun, eine Lösung für dieses Problem gefunden zu haben. Um das ResearchKit auf die Beine zu stellen, hat man mit dem Mount Sinai-Klinikum in New York, mit der Universität Oxford, dem University of Pennsylvania Health System und anderen Institutionen zusammengearbeitet, und es gibt auch schon einsatzbereite Apps für fünf verschiedene Bereiche (Asthma, Parkinson, Brustkrebs, Diabetes und Herzkreislaufkrankheiten); andere sollen folgen.
In der Praxis sollen sich Betroffene die Anwendungen auf ihre Smartphones laden sollen und über eine gewisse Zeit regelmäßig Tests absolvieren sowie Fragen beantworten. Bei Parkinson zum Beispiel wird mithilfe der Beschleunigungssensoren die Qualität der Fortbewegung erfasst, oder über einen einfachen Tipptest die motorische Genauigkeit der Fingerbewegungen.
Beim Asthma beantwortet der User täglich einige Fragen zu seinem Befinden, so z.B. ob es zu Atemnot gekommen ist, und wenn ja, unter welchen Umständen; er kann sich an die regelmäßige Einnahme seiner Medikamente erinnern lassen, es gibt Pollenwarnungen für den Ort seines Aufenthalts usw..
Wer will, kann die Daten aus der schon länger unter iOS existierenden "Health"-App integrieren, was einen noch detaillierteren Blick auf die Situation des Betroffenen ermöglicht. Für die fünf Pionier-Apps rechnet man jeweils mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern.
Die Kritikpunkte liegen auf der Hand
So fragt sich zum Beispiel, ob die sensiblen Daten bei Apple und seinen Partnern sicher sind. Die Daten sollen anonymisiert werden, und Apple selbst verspricht, analog zu den Daten aus den Fingerabdrucksensoren der entsprechenden iOS-Geräte, dass sie nur von den medizinischen Partnern genützt werden können: "Apple doesn’t see your data".
Das kann man glauben oder nicht, aber eins ist in den Zeiten allgegenwärtiger Überwachung sicher: Wenn jemand zum Beispiel mit den Ressourcen der Geheimdienste an vertrauliche Patientendaten heran will, dann kriegt er sie auch, ob sie nun bei Apple, seinen medizinischen Partnern oder zum Beispiel bei einer großen deutschen Krankenkasse liegen.
Viel wichtiger ist die Frage, ob Apple gegenüber unmittelbaren industriellen Interessen dichthält, die genau wie die gemeinnützige medizinische Forschung an Daten interessiert sind: wenn ja, dann müssten sich die Pharma-, die Medizin-, und die Versicherungsindustrie eben ein wenig gedulden, bis die Epidemiologen und Ärzte die Daten im Interesse aller ausgewertet haben. Früher oder später würden sie von der Arbeit anderer ohnehin massiv profitieren, ganz wie üblich.
Dann stellt sich die Frage, ob die Apple-Nutzer weltweit tatsächlich einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft darstellen. Dem begegnet Apple mit einer ungewöhnlichen Maßnahme: Das ResearchKit ist Open Source. Es sollte auf alle Plattformen portiert werden können, die technisch mit dem iPhone vergleichbar sind. Einer Android-Version der ResearchKit-Apps legt Apple auf diese Weise keine Steine in den Weg.
Und was haben eigentlich die Nutzer davon, dass sie teilweise monatelang ihr Smartphone einsetzen, um Ärzten, die sie nicht einmal kennen, ihre Gesundheitsdaten zu übermitteln? Bei den herkömmlichen Studien, ja sogar beim bloßen Blutspenden verdient man immerhin noch ein bisschen Geld, was bei den bis jetzt erschienenen ResearchKit-Apps kategorisch ausgeschlossen ist. Wer von diesem unmittelbaren Nachteil absehen kann, mag darauf hoffen, dass eine mit besseren Daten ausgestattete medizinische Forschung seine Krankheit besser verstehen und behandeln lernt. Ob das als Motivation zur Teilnahme ausreicht, steht dahin.
Mit anderen Worten: Wenn es richtig schlecht läuft, dann hat Apple mit seinen medizinischen Partnern einen Flop der geschaffen, der allenfalls als Datensteinbruch für die interessierte Privatwirtschaft dient. Wenn es gut läuft - und was bis jetzt von dem Experiment zu sehen ist, lässt in dieser Hinsicht hoffen - dann würde sich das ResearchKit als eine Art Hubble-Teleskop für den weitgehend im Dunklen liegenden Raum der Volkskrankheiten erweisen; ein Instrument zur Langzeitbeobachtung dieses Raums mit hoher Auflösung und Abbildungstreue. Und das wäre dann auch eine schöne Teilantwort auf die neulich hier gestellte Frage, was Apple mit seinen erheblichen Barreserven eigentlich anfangen will (Der größte Apfel der Welt).