Zahlen und Logik der Corona-Krise

Seite 2: Von offiziellen Zahlen zur Dunkelziffer

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Ich betrachte im Folgenden noch einmal selbst die offiziellen Zahlen, bevor ich auf eine Schätzung der Dunkelziffer komme. Fangen wir erst einmal mit der Anzahl der bestätigten Infektionen an:

Dargestellt ist die Anzahl bestätigter Infektionen für einige europäische Länder vom 15. Februar bis 7. April 2020 (gelb: Spanien, grün: Italien, schwarz: Deutschland; blau: Frankreich; orange: Niederlande; rot: Österreich). Quelle: ourworldindata.org

Das sind die absoluten Fälle. Wir vergleichen hier aber auch Äpfel mit Birnen, da etwa Deutschland rund 83 Millionen Einwohner hat, Österreich aber nur rund 9 Millionen. Berechnen wir die bestätigten Fälle pro Million Einwohner, dann ergibt sich folgendes Bild:

Bestätigte Infektionen per Million Einwohner (gelb: Spanien, grün: Italien, schwarz: Deutschland; blau: Frankreich; orange: Niederlande; rot: Österreich). Quelle: ourworldindata.org

Während Italien und Spanien bei den absoluten Zahlen gleichauf lagen und Deutschland wie Frankreich im Mittelfeld, zeigt sich nun doch ein deutlicher Unterschied zwischen Spanien, das hier im Vergleich das Land mit den größten Problemen zu sein scheint, und Italien. Deutschland, Frankreich und die Niederlande schneiden so gesehen sehr ähnlich ab. Österreich hat jetzt, bezogen auf seine Bevölkerung, deutlich mehr Fälle. Nun kann man noch berechnen, wie viele Tage es bis zur Verdopplung dauerte. (Wohlgemerkt, wir haben es immer noch mit den bestätigten Infektionen zu tun.)

Je höher die Balken für die Verdopplungsrate, hier gesehen vom 7. April in die Vergangenheit, desto langsamer steigen die bestätigten Infektionen an. Das gibt zumindest einen Hinweis auf die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus, sofern ein Land nicht zwischendurch seine Testpraxis veränderte. Quelle: ourworldindata.org

Demnach hätte Italien den Höhepunkt der Verbreitung hinter sich, wenn auch auf hohem Niveau. Ein ähnliches Bild zeigt Österreich, das zurzeit über Lockerungen der Schutzmaßnahmen diskutiert. Bei den restlichen Ländern liegt die Verdopplungsrate zwischen neun und neuneinhalb Tagen. Da Spanien mit Abstand die meisten (bestätigten) Infektionen hat, sowohl absolut als auch relativ zur Einwohnerzahl, hat es auch laut dieser Darstellung die größten Probleme. Übrigens wurde mitunter die Grenze von zehn Tagen als Hinweis darauf genannt, dass die Ausbreitung unter Kontrolle ist.

Schätzungen der tatsächlichen Infektionen

Wie mehrfach angemerkt, hängt die Aussagekraft dieser Daten davon ab, wie viele der tatsächlichen Infektionen mit dem Coronavirus erfasst werden. In der Wahlforschung reichen repräsentative Befragungen von tausend Menschen oft aus, um relativ zutreffende Prognosen abzugeben. Warum macht man das nicht auch beim Coronavirus und veröffentlicht solche Zahlen täglich in den Medien? Dazu noch einmal ein Blick auf die Daten für Deutschland.

So gab es am 7. April rund 1200 bestätigte Infektionen pro Million Einwohnern; oder anders formuliert: 1,2 pro 1000 (also Promille) oder 0,12 Prozent. Wenn man eine Stichprobe von nur 1000 Menschen untersuchen würde, wird so deutlich, dass die Ergebnisse leicht durch den Zufall verzerrt werden könnten: Wenn in der Auswahl keine, zwei oder fünf Infektionen bestätigt würden, wären die Unterschiede bei den Hochrechnungen dramatisch.

Statistiker können das genauer berechnen - aber ich vermute, dass man unter diesen Umständen eher 10.000 Menschen repräsentativ testen müsste, um ein gutes Bild für die Gesamtbevölkerung zu erhalten. Dann wäre das Ergebnis weniger stark vom Zufall abhängig. 10.000 Tests einer repräsentativen Zufallsstichprobe? Da könnte man meinen, dass es der Bundesregierung das wert sein sollte, um die Verhältnismäßigkeit ihrer einschneidenden Maßnahmen unter Beweis zu stellen.

Nun kommt aber noch die Sache mit der Dunkelziffer: Es wird ja überwiegend gar nicht repräsentativ, also ohne medizinischen Anlass, nach dem Virus gesucht, sondern nur bei bestimmten Symptomen und, je nach Regeln, zusätzlichen Bedingungen, etwa ob man vorher in einem Corona-Risikogebiet war. Jetzt haben aber zwei Ökonomen von der Universität Göttingen, Christian Bommer und Sebastian Vollmer, Schätzungen der Dunkelziffer berechnet:

Unzureichende und verzögerte Tests könnten erklären, warum einige europäische Länder wie Italien und Spanien viel höhere Opferzahlen (im Vergleich zu den gemeldeten bestätigten Fällen) aufweisen als Deutschland. Hier wurden bislang schätzungsweise 15,6 Prozent der Infektionen festgestellt, verglichen mit nur 3,5 Prozent in Italien oder 1,7 Prozent in Spanien.

Pressemitteilung der Universität Göttingen vom 6. April 2020

Wenn man diese Schätzung übernimmt, kommt man für den 7. April für Deutschland auf 7.663 Infektionen pro Million Einwohner, für Italien auf 62.803 und für Spanien auf satte 170.087! Anders ausgedrückt wären das rund 0,8% für Deutschland, 6% für Italien und sogar 17% für Spanien. Das wäre dann, wohlgemerkt, die Zahl der tatsächlichen und nicht nur bestätigten Infektionen.

In diesen Größenordnungen müssten sich repräsentative Tests unter vertretbarem Aufwand durchführen lassen - und ich finde, dass die Bundesregierung diese Erkenntnisse nun der Bevölkerung schuldet. (Im Detail müsste man freilich noch einmal akute von bereits genesenen Infektionen unterscheiden.)

Wenn man übrigens, Stichwort "Herdenimmunität", die Resistenz in der Bevölkerung als Wirtschaftsfaktor sieht, wie es Eichenberger, Hegselmann und Stadelmann taten (Der Weg zurück in die Normalität), dann hätten Italien und vor allem Spanien zwar eine große, bittere Pille schlucken müssen, stünden für die Zukunft aber viel besser da als andere Länder. Vielleicht erfüllt sich hier einmal das biblische Sprichwort: Die Letzten werden die Ersten sein.