Zauberer zwischen den Welten

Die Thaumaturgie des China Miéville

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Es ist lange bekannt, dass eine Legierung der beiden Genres Fantasy und Science Fiction sehr schwierig ist, und die Gründe dafür sind bei Lesern wie Autoren beider Genres immer der Gegenstand intensiver Diskussion gewesen. Der britische Autor China Miéville scheint sich nicht darum zu kümmern.

Miéville

Ein gigantischer Stadtmoloch, dessen korrupter Bürgermeister nicht nur ab und zu mit Abgesandten des Teufels konferiert, sondern mit noch weitaus komplizierteren Entitäten, die kaum logischer Kommunikation zugänglich sind. Eine andere Stadt, die aus Tausenden miteinander verketteten Schiffen besteht, frei über die Weltmeere flottierend. Klassenkämpfe, bei denen Magie eine Rolle spielt. Bevölkerungen, die sich aus den unterschiedlichsten Arten intelligenter Wesen zusammensetzen - von Kakteenmenschen, Androiden und Insektoiden bis zu noch bizarreren Lebensformen. Technosphären, in denen dampfgetriebene analytische Maschinen, ultrakomplexe Mathematik, Zaubersprüche und Vorderlader ohne Probleme miteinander koexistieren.

Was wie das Arsenal eines eher technisch interessierten Terry Pratchett zum Anrühren einer neuen komödiantischen Fantasyserie aussieht, gerät unter den Händen des Briten China Miéville zu ernstzunehmenden Weltentwürfen, bisweilen betörender schillernd als die besten Gemälde der Surrealisten. Wie macht er das?

"Perdido Street Station" beginnt mit den Nöten des Vogelmenschen Yagharek aus der Wüste Cymek, dem zur Stafe für ein zunächst ungenanntes Verbrechen die Flügel abgeschnitten worden sind. Er sucht in New Crobuzon, der größten Stadt weit und breit, nach Möglichkeiten, seine Flügel wiederzuerlangen, sei es nun durch Zauberei, Technik oder irgend etwas dazwischen, es ist ihm egal, er will nur wieder fliegen. In New Crobuzon heuert er Isaac der Grimnebulin für die Aufgabe an, einen Wissenschafter an der Grenze zur Illegalität, am Rand der Scientific Community von New Crobuzon, seit Jahren mit zweifelhaften Foschungen befasst und durch seine Liebe zu der insektoiden Khepri-Frau Lin ohnehin stets in Gefahr, der völligen sozialen Verachtung zu verfallen. Der Grimnebulin widmet sich der Aufgabe mit Leidenschaft, und bringt sich zunächst durch Mithilfe krimineller Kontakte in den Besitz eines ganzen Zoos von fliegenden Tieren - er will die Mechanik des Flugs gründlich studieren, bevor er sich mit Yagharek befasst. Ohne es zu wissen, setzt er damit eine unheilvolle Entwicklung in Gang, denn eine wunderschöne Raupe, die ebenfalls Teil seines neuen Privatzoos ist, entwickelt sich zu einem lebenden Alptraum - gefüttert mit "Dreamshit", der neuen Modedroge New Crobuzons, verpuppt sie sich zu einem "Gierfalter".

Sie befreit sich aus ihrem Käfig und trinkt mit ihrer langen Zungebuchstäblich die Seelen ihrer Opfer leer, denn ihre Nahrung sind die Träume intelligenter Wesen.

Nicht nur das - sie kann auch vier weitaus größere und gefährliche Artgenossen befreien, die von dem Drogenzar Motley gefangengehalten werden, um als "Milchkühe" für Dreamshit zu dienen, denn er ist ihr Produkt, quasi der Honig, mit dem Gierfalter ihre Nachkommen füttern. Zu fünft versetzen die Monstren die Stadt in Angst und Schrecken, jeden Morgen einige Dutzend neue Opfer im Wachkoma hinterlassend. Der Roman ist die Geschichte des Kampfs gegen die Bedrohung. Der Bürgermeister und seine gefürchtete Miliz machen sich auf die Jagd (während sie gleichzeitig Dockarbeiter-Streiks niederschlagen), Motley und seine Unterweltspezialisten ebenfalls, und Isaac begibt sich auch auf die Jagd, zusammen mit einer komplizierten, in ihren widersprüchlichen Motivationen höchst unstabilen Truppe von Grenzgängern, die mit scheinbar unadäquaten Mitteln den Kampf aufnimmt.

Im Verlauf der ungewöhnlich spannenden Auseinandersetzung entfalten sich die Gesellschaft, die Technologie und die Kultur New Crobuzons in einem wahren Feuerwerk von Konflikten und Teildramen, die jedoch alle nahtlos in das Gesamtszenario integriert sind. Zur immensen Erleichterung des Lesers endet die Geschichte mit der Niederlage der Giefalter - aber auch mit der Fucht Isaacs und seiner Gefähren, die nicht als Sündenböcke für Rudgutters Miliz herhalten wollen.

Viele andere Autoren hätten aus diesem Buch den Grundstein für eine Saga über Tausende von Seiten gemacht, die ohne Zweifel schon bald eine enorme Anhängerschaft hinter sich hergezogen hätte. Nicht so Miéville. "The Scar", der Nachfolger von Perdido Street Station, wendet sich fast völlig von dem bereits existierenden Szenario ab, und präsentiert Bellis Coldwine, eine frühere Geliebte Isaacs, die aufgrund der polizeilichen Hysterie im Gefolge der Falteraffäre nach Nova Esperium - eine der Übersee-Kolonien New Crobuzons - halb auswandert, halb flieht.

Auf dem Weg dorthin wird sie von Piraten gefangengenommen und nach Armada gebracht, einer ewigen Stadt der Piraten, bestehend Tausenden von aneinandergeketteten Schiffen. Zu ihrer Überraschung ist Armada keine chaotisches, schwimmendes Räubernest auf dem Meer, sondern besitzt eine Verwaltung, eine Regierung, soziale Strukturen bis zu Stadtparks und Bibliotheken. In einer der Bibliotheken, die von den Piraten als Wissensressource geschätzt und geachtet werden, findet Bellis Coldwine, von Beruf Linguistin, neue Arbeit.

Wie New Crobuzon besitzt Armada Stadtteile von wild variierendem Charakter, wie New Crobuzon ist Armada ein Hexenkessel an Schicksalen und Miniaturdramen. Ein wichtiger Unterschied zu New Crobuzon besteht allerdings darin, dass es in Armada keine Unterwesen gibt - obwohl die Stadt keine Demokratie ist, sind alle Einwohner wenigstens der Idee nach gleich. Aber im Unterschied zu anderen Mitreisenden, die ihr neues Leben unter den Piraten begrüßen, sehnt sich Bellis nach New Crobuzon zurück - ihrer eigentlichen Stadt. Sie leidet an verzehrendem Heimweh und denkt an Flucht. Die Geschichte ihrer Ausbruchsversuche, der Intrigen, durch die sie vereitelt werden, sind mit dem Schicksal der schwimmenden Stadt eng verwoben; ihre verzweifelten Bemühungen, andere für ihre Zwecke zu benutzen und ihr verzweifeltes Bewusstsein, von anderen für unbekannte Zwecke benutzt zu werden, verleihen der Geschichte den nötigen psychologischen Spannungsbogen.

Aber wie funktioniert all das mit dem seltsamen und an vielen Stellen scheinbar unnötig bizarren Personal, das Miéville rekrutiert hat? Die Antwort ist: Er verfügt eine ungewöhnlich große Bandbreite an erzählerischen und schriftstellerischen Fähigkeiten, von denen hier nur stellvertretend einige genannt werden sollen.

Alle Wesen, die in seinen Romanen eine Rolle spielen, sind im Rahmen ihrer körperlichen und sozialen Gegebenheiten - so bizarr sie auch sein mögen - "echte Menschen". Es ist eine triviale Beobachtung, dass phantastische Autoren eigentlich immer über Menschen schreiben, auch wenn sie irgendwelche Schleimwesen im Krebsnebel oder Magier und Drachen als Masken benutzen. Miéville macht aus der Not eine Tugend, indem er die Figuren mit einem sozialen Umfeld versieht, das selbst fragwürdige "Konfigurationen" plastisch und greifbar macht. Die insektoide Khepri-Frau Lin aus "Perdido Street Station" und der Kakteenmann Hedrigall aus "The Scar" sind selbst als Nebenfiguren glaubhafter als die Protagonisten vieler anderer Autoren. Auch niederträchtige Charaktere, wie zum Beispiel Rudgutter, muss er nicht künstlich dämonisieren. Er beschreibt sie als Personen, die in einem sehr menschlichen Gemisch aus Rationaliät und Irrationaliät ihre Interessen wahren wollen, von Fall zu Fall ohne jede Rücksicht auf Verluste.

Miévilles ganzen Zugriff könnte man vielleicht als paradoxen Realismus bezeichnen. Obwohl seine Romane mehr Phantasie aufbieten als die handelsübliche Phantastik, sind sie realistischer als die handelsübliche Mainstream-Literatur, die derzeit (gerade in Deutschland) weitgehend auf die Darstellung sozialer Umstände verzichtet. Miévilles Kunst und Menschenkenntnis verhindern dabei, dass er Agitprop oder Lehrstücke verfasst, wie sie es auch in der phantastischen Literatur schon gegeben hat. Man kann durchaus sagen, dass er als phantastischer Autor einer Idee der Wahrheit und der erzählerischen Gerechtigkeit verpflichtet ist, die eindimensionale Schnellschüsse nicht erlaubt.

Diese schriftstellerische Ethik sorgt auch dafür, dass die Städte, in denen Miévilles Romane spielen, nicht einfach nur Theaterkulissen im Hintergrund sind. Sie sind lebendig, wahrhaftig, dreidimensional, an manchen Stellen hat man den Eindruck, sie seien die eigentlichen Helden der Geschichte, und in den besten Szenen hält sie der Leser mitsamt ihrem fremdartigen Inventar auf ungemütliche Weise für möglich.

Was die Darstellung von Wissenschaft und Technik angeht, dehnt und ergänzt Miéville die Realität lieber, als sie mit ad-hoc-Erfindungen gewaltsam zu durchlöchern. In "The Scar" fördern maritime Ölbohrplattformen nicht nur Öl, sondern auch "Steinmilch", eine Substanz, die für die Ausführung wichtiger magischer Prozeduren von Nöten ist. Elektrizität gibt es bei ihm auch, aber elektrische Leiter transportieren bei ihm außerdem "thaumaturgische" Energien. Diese freche Spiel mit Wahrscheinlichkeiten, dem Halbwissen des Lesers und den Rätseln, die die Wissenschaft nicht gelöst hat und vielleicht nicht lösen kann, erzeugt eine imaginierte Technosphäre von ungewöhnlicher Dichte.

Zudem verfügt Miéville über eine wirklich poetische Sprache. Wenn er die spezielle Magie bestimmter Wasserwesen als vodyanoi watercræft bezeichnet oder ein veraltetes, gleichwohl zentrales Sprach-/Schriftsystem als high kettai bezeichnet, dann macht schon der Klang Spaß und trägt ganz erheblich zum magischen Effekt bei, den Miéville erreichen will.

All das, sowie seine intime Kenntnis des inneren Uhrwerks, das die Literatur ganz allgemein antreibt, befähigt ihn dazu, eine Gemisch aus Science Fiction, Fantasy und Mainstream zu erzeugen, wie man es nicht alle Tage findet. Für die Leser im deutschsprachigen Raum ist übrigens gesorgt: Eva Bauche-Eppers' Übersetzung von "Perdido Street Station", zweibändig als "Die Falter" / "Der Weber"erschienen, hat den Kurd-Laßwitz-Preis für die beste Übersetzung des Jahres 2002 gewonnen, an der Übersetzung von "The Scar" arbeitet Bauche-Eppers bereits. Miéville selbst sitzt angeblich an einem neuen Buch. Es wird schwer werden, das Niveau zu halten, aber zuzutrauen ist es ihm durchaus.