Zehn Jahre NSU-Aufklärung: Wo waren wir stehen geblieben?
Seite 2: Vorenthaltene Akten über eine Mischszene
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Bekannt ist, dass es allgemein zwischen der Organisierten Kriminalität und der Neonazi-Szene Verbindungen gibt. Die OK sichert ihre Geschäfte nicht selten durch gewalterprobte Rechtsextreme ab. Sie werden im Rotlichtbereich oder bei Drogen- und Waffengeschäften als Bodyguards, Türsteher, Geldeintreiber oder Kuriere eingesetzt. Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen hatte diesen Bereich explizit auf seine Agenda gesetzt. Er scheiterte letztlich aber daran, dass das - SPD-geführte - Innenministerium den Parlamentariern die Akten und Namen der Polizeispitzel in diesem Kriminalitätsbereich vorenthielt.
Spur No. 2: Das FBI und islamistische Terrorverdächtige. Zur gleichen Zeit, als die beiden Polizeibeamten angegriffen wurden, sollen sich zwei US-amerikanische FBI-Agenten auf dem Platz aufgehalten haben und Zeugen geworden sein. Sie sollen außerdem in Begleitung eines Verfassungsschützers aus Baden-Württemberg oder Bayern gewesen sein. Das geht jedenfalls aus einem offiziellen Schriftwechsel zwischen Bundesnachrichtendienst, Militärischem Abschirmdienst, Generalbundesanwalt und Bundeskanzleramt von Anfang Dezember 2011 nach dem Auffliegen des NSU hervor.
Die US-Seite, liest man weiter, habe den bundesdeutschen Behörden ein "offizielles Gespräch zu den Hintergründen" angeboten, was von denen aber abgelehnt worden sei. Der Schriftwechsel lag sowohl dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags als auch dem des Landtags von Baden-Württemberg vor. Als im Oktober 2012 Journalisten Nachfragen zu dem Material hatten, dementierte die Bundesanwaltschaft noch am selben Tag eilfertig. Erst danach wurde die US-Botschaft um eine Stellungahme gebeten.
Und erst drei Tage später traf die gewünschte Antwort ein, es hätten sich keine FBI-Beamten in Heilbronn aufgehalten. Bei den drei kurz nach der Tat in nördliche Richtung fliehenden Männern könnte es sich möglicherweise wiederum um die beiden FBI-Männer und den deutschen Verfassungsschützer gehandelt haben.
Rekrutierung einer V-Person beabsichtigt
Bei der - möglichen - Anwesenheit der FBI-Agenten in Heilbronn soll es um die Überwachung von Aktivitäten der sogenannten islamistischen "Sauerlandgruppe" gegangen sein. Dazu passt, dass die US-Sicherheitsbehörden am 20. April 2007, fünf Tage vor dem Attentat in Heilbronn, eine Terrorwarnung für US-Bürger und -Einrichtungen in Deutschland abgaben. Dazu passt außerdem, dass am Anschlagstag ein baden-württembergischer LfV-Beamter in Heilbronn war, um eine Person aus dem Bereich Islamismus zu treffen.
Ziel war, sie als V-Person, sprich Informant, zu gewinnen. Seltsam ist dann noch, dass ausgerechnet ein Vertreter der libanesischen Amal-Bewegung, der von den Sicherheitsbehörden ebenfalls überwacht wurde, einer der ersten Zeugen am Tatort war, noch ehe die Polizei eintraf.
Die Spur No. 3 führt zur Polizei selber und in ihre Reihen. Ab 13:20 Uhr, also etwa 40 Minuten vor dem Anschlag, bis etwa fünf Minuten davor, haben fünf Augenzeugen unabhängig voneinander einen Streifenwagen bei und auf der Theresienwiese sowie direkt am späteren Tatort wahrgenommen. Ob es sich um ein und dasselbe Fahrzeug gehandelt hat, das sich dann um das Gelände bewegt haben müsste, oder ob es mehrere Fahrzeuge waren, ist nicht geklärt.
Ihre Fahrer sind nicht identifiziert. Sicher ist lediglich, dass es nicht Kiesewetter und Martin A. waren, weil die sich erst gegen 13:45 Uhr vom Polizeirevier aus auf den Weg zur Theresienwiese machten, wo sie gegen 13:55 Uhr eintrafen. Die Wahrnehmung der Polizeiautos durch Passanten und Verkehrsteilnehmer wird andererseits offiziell nicht bestritten, die Angaben der Zeugen werden als glaubhaft angesehen.
Die Bereitschaftspolizei aus Böblingen entsandte fast jeden Tag Unterstützungskräfte nach Heilbronn. Meist waren es sechs an der Zahl, manchmal zehn. Am 25. April 2007 waren nicht weniger als 15 Kräfte in Heilbronn anwesend, so viel wie nie. Warum? Die Gründe sind bisher nicht bekannt. War die Polizei auf ein Ereignis vorbereitet? Rechnete sie mit etwas? War ein Zugriff geplant, der nach dem Mordanschlag auf die beiden Kollegen verschwiegen werden soll? Knapp die Hälfte der 15 Unterstützungskräfte versahen ihren Dienst in Zivil ohne Uniform und Streifenwagen. Auch die Heilbronner Polizeidirektion war an jenem Tag mit mindestens zwei Tarnfahrzeugen unterwegs. Hinzu kamen weitere Pkw mit Nummernschildern, die amtlich nicht vergeben worden waren, also ebenfalls Tarnkennzeichen gewesen sein müssen.
Die Verdachtsspuren, die in die Reihen der Polizei hineinführen, berühren auch die Mordermittlungsakten der Heilbronner Kriminalpolizei. Dort finden sich erfundene, konstruierte Vernehmungen, wie etwa von einer Streife, die am Vortag am späteren Anschlagsort auf der Theresienwiese Pause gemacht hatte. In einer angeblichen Vernehmung von 2007 soll der Beamte Patrick H. erklärt haben, dort "nie Pause" gemacht zu haben.
Der Beamte erfuhr von dieser "seiner Vernehmung" erst Jahre später 2010 und fiel aus allen Wolken. Er sei damals überhaupt nicht vernommen worden, die Vernehmung jetzt sei die erste Vernehmung mit ihm. Außerdem stimme der Inhalt nicht, denn er habe ja am 24. April 2007 an dem Trafohäuschen mit seiner Kollegin Pause gemacht.
Bei dem früheren BFE-Polizisten Ringo L., der am 25. April 2007 in Heilbronn im Einsatz und Vorgesetzter von Kiesewetter war, verhält es sich gerade umgekehrt. Er war zweimal vernommen worden, 2007 und 2011. In den Akten findet sich aber nur die Vernehmung von 2011, nicht die von 2007. Das wurde aber erst im Frühjahr 2019 entdeckt, als der Beamte vor den Thüringer Untersuchungsausschuss in Erfurt geladen war und zwei Vernehmungen erwähnte.
Neben konstruierten und fehlenden Vernehmungen wurden den Mordermittlern der SoKo Parkplatz auch Unterlagen von Polizeikollegen vorenthalten. So seitens der Böblinger Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) über Kiesewetters verdeckte NoeP-Tätigkeit im Anti-Drogen-Einsatz.
Hohe V-Personen-Dichte
Mehrere V-Personen der Heilbronner Polizei waren am 25. April 2007 in zeitlicher und räumlicher Nähe zur Tat. Eine sah einen blutverschmierten Mann in ein wartendes Auto stürzen, dessen Fahrer auf Russisch "Dawei, dawei" rief. Eine andere Person ist Bernd P. Er betrieb bis Mitte der 90er Jahre privat einen Keller, in dem sich Neonazis aus Heilbronn, aus ganz Württemberg, aber auch Kameraden aus Ostdeutschland trafen. Unter den Besuchern waren Markus Frntic oder Nicole Schneiders, die im Münchner Prozess den Angeklagten Ralf Wohlleben verteidigte.
Bernd P. selber arbeitete konspirativ mit dem Staatsschutz der Heilbronner Polizei zusammen. Am 25. April 2007 hielt er sich im Tatzeitraum in etwa 400 Meter Entfernung auf der anderen Neckarseite in Böckingen bei einer Tankstelle auf. Das war bisher nicht bekannt, findet sich aber in den Ermittlungsakten.
Der vierte offene Spurenkomplex führt erneut zurück zur rechtsextremen Szene und dem NSU-Kerntrio. Er ist mit dem Namen Kai Ulrich S. verbunden, einem Neonazi aus Ilsfeld im Kreis Heilbronn. Das LKA rechnete ihn der rechtsextremen "Aktionsgruppe Heilbronn" zu. Er organisierte in der Szene Waffen und war als Tätowierer von Nazi-Symbolen bekannt.
Nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 stellte sich heraus, dass Kai Ulrich S. mit den beiden in Verbindung gestanden haben muss. Eine andere Kontaktperson von ihm war Florian H., der nach einem Jahr aus der Neonazi-Szene aussteigen wollte, sich dafür dem LKA anvertraute und der im September 2013 auf dem Stuttgarter Festgelände Wasen in seinem Auto verbrannte. Ob Mord oder Selbstmord ist nicht geklärt. Am Nachmittag hatte er einen Vernehmungstermin beim LKA zum Thema NSU. Kai Ulrich S. erfuhr eine auffällige Sonderbehandlung.
In den NSU-Ermittlungsakten sind Vermerke zu ihm als "Verschlusssache eingestuft". Der Heilbronner Staatsschutz-Chef sagte, als er im April 2015 als Zeuge vor den Untersuchungsausschuss in Stuttgart geladen war, zu S. nur in nicht-öffentlicher Sitzung aus. S. selber hat der Ausschuss nie vorgeladen.
Der Kiesewetter-Mord von Heilbronn: Eine Ansammlung von Ungereimtheiten, Widersprüchen und offenen Fragen. Doch nach dem Bekanntwerden des NSU im November 2011 wurden sie nicht etwa gelöst, sondern um zahlreiche Fragwürdigkeiten im Umgang mit der Mordserie erweitert:
• Tendenziöse und manipulative Ermittlungen durch Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt
• Behinderte Ermittlungen
• Unidentifizierte Ermittlungen
• Die Rolle des Landtags von Baden-Württemberg, der sich lange Zeit einem Untersuchungsausschuss verweigerte, ehe der 2015 doch seine Arbeit aufnahm
• Die Rolle dieses parlamentarischen Ausschusses wiederum, der valide Spuren abwertete und sich in Verschleierungen übte
• Die unaufgeklärte Rolle der V-Leute in der rechtsextremen Szene von Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen
• Das Sterben mehrerer Zeugen, die alle einen Bezug zu NSU hatten, jung waren und eines unnatürlichen Todes starben
• Die Rolle der Medien, wo einmalige Aufzeichnungen gelöscht und unangenehme TV-Dokumentationen in den Giftschrank verbannt wurden
• Schließlich die Fortsetzung des NSU-Komplexes im Kontext von Uniter-Loge, Prepper-Polizisten und -Soldaten sowie dem Mord an dem Politiker Walter Lübcke.
Schon die schiere Fülle von Fragen und Aspekten zeigt, wie dürftig die Theorie von den Allein- und Spontantätern Böhnhardt und Mundlos, obendrein Ortsfremde, erscheint. Welchen Hintergrund hat der Polizistenmord von Heilbronn tatsächlich? Yvonne M., ebenfalls Polizistin der Sondertruppe aus Böblingen und Mitbewohnerin von Michèle Kiesewetter, hat bei ihrer Vernehmung im Dezember 2010 folgende Ausführungen gemacht:
Ich kann mir gut vorstellen, dass die Tat von mehreren begangen wurde, ich glaube sogar von mehr als nur zwei Personen. Die Frage kam damals auf, ob das am helllichten Tag an diesem Ort Sinn macht. Wenn man am Tatort steht, dann merkt man, dass die Täter nicht unbedingt auffallen müssen. Es fahren ständig Züge und es ist dann so laut, dass man einen Schuss vermutlich nicht hören wird.
Wenn dann noch einige Mittäter an bestimmten Knotenpunkten als Streckenposten aufgestellt werden und die Passanten mit 'unauffälligen Fragen', z.B. die Frage nach dem Weg, einer Straße oder so ähnlich, aufhalten, dann muss das keiner bemerkt haben. Manchmal sind es auch ganz belanglose Dinge, die so unauffällig sind, dass man sie z.B. als Zeuge gar nicht erwähnt. Wenn ich am Tattag z.B. nach dem Weg gefragt werde, dann ordne ich das nicht dem Mordfall zu. Ich denke daher auch, dass es eine geplante Tat war.
Yvonne M., Kollegin und Mitbewohnerin von Michèle Kiesewetter
Wie kommt die Beamtin auf ein solches Szenario, das weniger nach einem singulären Anschlag aussieht, als nach einer komplexeren Operation? Daran können Böhnhardt und Mundlos als Mittäter und Teil einer größeren Tätergruppierung beteiligt gewesen sein. Dann wäre auch der NSU Teil einer größeren Organisation, die wir noch nicht kennen.
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