Zehn hoch minus neun
Astronautik des Kleinsten: Die Nanotechnologie arbeitet an der Kolonialisierung des Körperinneren durch Mikromaschinen
Der Beginn der abendländischen Naturwissenschaft ist unmittelbar mit bestimmten Sehmaschinen verbunden. Die Erfindung von Mikroskop und Teleskop in der frühen Neuzeit machte erstmals den Einblick in Mikro- und Makrokosmos möglich. Ähnlich wie das Teleskop die kopernikanische Wende in der Astronomie begleitete, revolutionierte das Mikroskop die Vorstellung von der Urzeugung in der Biologie. Nun wurde die Welt nicht mehr von Gott her gedacht, sondern von ihrer Sichtbarkeit.
Der Visualisierung durch das instrumentell verstärkte Auge folgte der Wunsch, das Sichtbargemachte zu bereisen und zu bearbeiten. Ist der Weltraum durch Astronauten schon weitgehend kolonialisiert worden, fehlt bisher eine entsprechende Technologie zur Beherrschung des Mikrokosmos. Der französische Philosoph Paul Virilio schreibt, der Ort der Spitzentechnologie sei deshalb heute "weniger in der Grenzenlosigkeit des unendlich Großen eines beliebigen Planeten oder des Weltraums zu suchen als vielmehr im unendlich Kleinen unserer Eingeweide und Zellen." 1 Nach der Kolonialisierung des territorialen Körpers wendeten sich die Wissenschaften der Kolonialisierung des menschlichen Körpers zu.
An dieser Kolonialisierung ist neben der Genforschung vor allem die Nanotechnologie beteiligt. Die nanotechnologische Forschung ist aus der Mikrosystemtechnik hervorgegangen - einer Miniaturisierungstechnik, die seit langem in der Halbleiterproduktion zum Einsatz kommt. Mit speziellen Verfahren werden aus Silizium oder Metall z.B. Computerchips und Mikromotoren von der Größe eines Stecknadelkopfes produziert. Die Nanotechnologie arbeitet an einer weiteren Miniaturisierung - im Bereich von zehn hoch minus neun, das ist ein millionstel Millimeter. Sie widmet sich dem "molecular manufacturing" - Moleküle und Atome sollen manipuliert werden, um neue Stoffe konstruieren zu können. Hier greifen biomedizinische und nanotechnologische Forschung ineinander: Ende des letzten Jahres präsentierte eine japanisch-niederländische Forschergruppe den ersten künstlichen molekularen Motor, der über UV-Licht mit Energie versorgt wird. Gekoppelt mit metallischen Komponenten soll er Medikamente in bestimmte Zellen transportieren und sie dort ausschütten. 2 Schon Ende der fünfziger Jahre träumte der Physiker und Nanotechnologie-Vordenker Richard P. Feynman davon, "den Chirurgen zu schlucken". Ziel ist es, miniaturisierte Roboter zu konstruieren, die Kalkablagerungen in Blutgefäßen wegfräsen sowie medizinische Implantate in den Körper einzusetzen, die Zellmembranen nachahmen. Bestimmte Methoden stehen bereits kurz vor der Erprobung: Die Arbeitsgruppe "Biomedizinische Nanotechnologie" an der Berliner Charité hat eine nanotechnologische Methode entwickelt, um Tumore zu behandeln. Ab Mitte diesen Jahres sollen PatientInnen damit behandelt werden.
Möglich wurde diese Entwicklung erst durch die entsprechenden Sehmaschinen: Mit der Erfindung der Rastertunnelmikroskopie 1981 konnten erstmals einzelne Atome dem naturwissenschaftlichen Blick zugänglich gemacht werden. Die Visualisierung beschränkte sich allerdings auf Metalle und Halbleiter. Biologisches Material konnte erst mit der Weiterentwicklung zur Rasterkraftmikroskopie fünf Jahre später untersucht werden. Seit 1990 fallen naturwissenschaftliches Sehen und Bearbeiten erstmals in einer Apparatur zusammen: Im Rasterkraftmikroskop können Atome nicht nur beobachtet, sondern sogar manipuliert werden, das Mikroskop ist vom Beobachtungsinstrument zum Werkzeug geworden. Symbolisiert wurde diese Entwicklung in dem Bild eines aus einzelnen Atomen zusammengesetzten IBM-Firmenlogos - eine territoriale Markierung, die unweigerlich an das Aufstellen der US-Flagge bei der ersten bemannten Mondlandung 1969 erinnert.
Wie sich bio- und nanotechnologische Forschung im mikroskopischen Zugriff auf das Erbgut verbündet haben, wurde auch auf der Veranstaltung "Zukunftschance Nanotechnologie" deutlich, die von der Technischen Universität Berlin (TU) und der Philip Morris Stiftung Anfang des Jahres ausgerichtet wurde. Die Philip-Morris-Stiftung prämiert jährlich vier Naturwissenschaftler mit insgesamt 200.000 DM für ihre Forschungen. Einer der ausgezeichneten Wissenschaftler ist Prof. Dr. Wolfgang Heckl von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er trägt eine Krawatte mit dem Periodensystem der Elemente. Nach der Visualisierung der Erbsubstanz DNA im Rastertunnelmikroskop, für die er 1993 den Philip Morris Preis bekam, bearbeitet er das Erbgut heute direkt: Auf der Berliner Veranstaltung demonstriert er, wie im "Manipulationsmodus" des Rasterkraftmikroskopes DNA ohne Restriktionsenzyme geschnitten werden kann. Heckls Forschungen stehen in direktem Zusammenhang mit dem Human Genome Project (HUGO) - der Entschlüsselung des gesamten menschlichen Erbgutes. Gemeinsam mit dem Münchner Institut für Humangenetik arbeitet Heckls Arbeitsgruppe an der nanotechnologischen Herstellung genetischer Sonden. Es ginge darum, "falsche Buchstaben aus dem Erbgut herauszunehmen und richtige einzusetzen", führt er aus.
Mit dieser Verschmelzung von bio- und nanotechnologischer Forschung beschäftigt sich auch der anfangs erwähnte Paul Virilio. Mit dem Eindringen ultraminiaturisierter Mikromaschinen in den menschlichen Körper stelle sich die Frage des "postindustriellen Designs", schreibt Virilio. Darunter fasst er eine Rekonstruktion des menschlichen Körpers - "sei es durch die Anbringung von Prothesen an seiner Oberfläche oder durch das intraorganische Einsetzen derselben, so wie die Nanotechnologien des Menschen, die sich entwicklende Biotechnologie es planen." Dabei ginge es nicht nur um Fortbewegungsprothesen, sondern um Bewusstseinsextensionen. Uns erwarte eine kognitive Ergonomie, "bei der die Gestaltung der nervlichen Reaktionen das Design des Konsumobjekts im Industriezeitalter ablöst." Laut Virilio könnte die Wissenschaft im folgenden ein neues "Priesteramt" übernehmen, das einen neuen, gesunden Körper entwerfe, der sich aus effektiver arbeitenden Ersatzorganen zusammensetze. In der zukünftigen Gesundheitsideologie werde der Körper wie eine zu beschleunigende Maschine behandelt, die laufend verbessert werden müsse.
Wenn Virilio schreibt, der Körper sei zum "letzten Planeten" geworden, der noch der Eroberung harre, kann der Nanotechnologie die Rolle einer "Astronautik des Kleinsten" zugeschrieben werden: Mikronautik als Versuch, die Technologie im Inneren des Körpers implodieren zu lassen. Eine weitere Raumnahme naturwissenschaftlicher Sehtechnologien deutet sich hier bereits an: Das in den Körper eingeschleuste Auge. Gegenwärtig wird in verschiedenen Instituten daran gearbeitet, ein Nano-Mikroskop in die Zelle zu verlagern, um sie von innen untersuchen und bearbeiten zu können.