Zerbricht Äthiopien im Bürgerkrieg?

Angriff auf Mekele, Äthiopien, November 2020.Bild: VOA, Public domain

Ahmeds totale Generalmobilmachung soll das Ruder militärisch herumreißen. Doch die Strategie geht nach hinten los

Während die Streitkräfte der äthiopischen Region ihren Vormarsch in die südlich gelegene Amhara-Region fortsetzen, hat Premierminister Abiy Ahmed Ali die gesamte Bevölkerung des 110 Millionen Einwohner zählenden Äthiopiens zum Kampf gegen die Regionalregierung aufgerufen. Ganz Äthiopien gerät damit in den Strudel des Bürgerkrieges.

Zuvor hatte der Bürgerkrieg in Äthiopiens nördlichstem Bundesland Tigray eine überraschende Wende genommen: Truppen der Regionalregierung Tigrays unter Führung der Tigray Peoples Liberation Front (TPLF) eroberten weite Teile der Region, einschließlich der Hauptstadt Mekelle, zurück.

Bis dahin war nahezu ganz Tigray von der äthiopischen Zentralarmee (ENDF), ihren Verbündeten aus Eritrea und Milizen aus der mit der TPLF verfeindeten Amhararegion besetzt. Einheiten der Tigray Defense Force (TDF) waren kurz nach dem Einmarsch am 8. November 2020 zu einem Guerillakrieg übergegangen und hatten sich in bergige Gebiete in Zentraltigray zurückgezogen.

Die Einnahme und Besetzung Tigrays war von systematischen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung begleitet. In einem aktuellen Bericht vom 10. August dieses Jahres heißt es bei Amnesty International:

Soldaten und Milizen setzten tigraische Frauen und Mädchen Vergewaltigungen, Gruppenvergewaltigungen, sexueller Sklaverei, sexuellen Verstümmelungen und anderen Formen der Folter aus, wobei sie häufig ethnische Verunglimpfungen und Todesdrohungen einsetzten.

Amnesty International

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"Es ist klar, dass Vergewaltigung und sexuelle Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt wurden, um Frauen und Mädchen in Tigray dauerhafte physische und psychische Schäden zuzufügen. Hunderte von ihnen wurden brutal behandelt, um sie zu erniedrigen und zu entmenschlichen", sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.

Auch aufgrund solcher Menschenrechtsverletzungen hatte der internationale Druck auf die Regierung Abiy Ahmed Ali zuletzt zugenommen.

Nachdem der Premierminister selbstsicher bereits drei Wochen nach dem Einmarsch das Ende des Krieges und den Sieg über die TPLF verkündet hatte, musste er sich unter dem Druck der vorrückenden Kräfte der TDF aus weiten Teilen Tigrays zurückziehen und einen einseitigen Waffenstillstand verkünden.

Wende im äthiopischen Bürgerkrieg

Wie konnte es einer kleinen Guerillatruppe aus dem nur sechs Millionen Einwohner zählenden Bundesland Tigray gelingen, ein Bündnis aus äthiopischer Zentralarmee, Streitkräften Eritreas, amharischen Milizen und arabischen Drohnen derart militärisch unter Druck zu setzen, dass die Hauptstadt und weite Teile Tigrays geräumt werden mussten, tausende Soldaten der Zentralarmee in Kriegsgefangenschaft gerieten und Waffen und Munition in großer Menge in die Hände der TDF fielen?

Für die Schwäche des äthiopisch-amharisch-eritreischen Bündnisses sehen Beobachter mehrere Gründe. Zum einen war die äthiopische Armee unter Abiy Ahmed Ali deutlich angeschlagen, seit er die Armee von tigraystämmigen Soldaten und Offizieren säuberte.

Ein großer Teil der Armeeangehörigen wurde entlassen oder verhaftet, das Führungspersonal wurde durch eher unerfahrene und weitgehend unfähige, aber loyale Gefolgsleute ersetzt.

Zum anderen existierten von Anfang an Risse in der Kriegskoalition. Das Bündnis hatte keine zentrale Führung, und die Moral der Regierungstruppen war eher schlecht. Vielfach kam es zu Rückzügen und der TDF wurde kampflos das Feld überlassen.

Während die äthiopische Armee einen hohen Blutzoll zahlen musste, schonte die eritreische Führung ihre Soldaten weitgehend.

Militärisch unsinnige und grausame Gräueltaten der Kriegskoalition gegenüber der Zivilbevölkerung Tigrays erwiesen sich insofern als Bumerang, als sie dazu beitrugen, dass sich die Bevölkerung Tigrays praktisch geschlossen hinter ihre Regierung und die TPLF stellte. Gerade für eine Guerillataktik erwies sich diese Unterstützung der Bevölkerung als entscheidend.

Auf der anderen Seite sind in der TDF relativ viele erfahrene und disziplinierte ehemalige Militärangehörige. Insbesondere die militärische Führung ist erfahren und besteht teilweise aus Generälen, die zuvor aus der äthiopischen Armee entlassen wurden, weil sie aus Tigray stammten.

Alte Generäle kehrten aus dem Ruhestand zurück, um die TDF zu unterstützen. Unter ihnen General Tsadkan Gebretensae, der als Mastermind der TDF gilt und der von Militärexperten als einer der besten Strategen Afrikas bezeichnet wird

Anders als die Koalition auf der Gegenseite hat die TDF eine zentrale Führung. Die Truppen haben eine hohe Kampfmoral, erbeuten Waffen und Munition und konnten die äthiopische Regierungsarmee entscheidend schwächen.

Experten schätzen, dass die äthiopische Zentralarmee nahezu 50 Prozent ihrer Kampfkraft und Truppen in Tigray verloren hat. Viele Kriegsgefangene wurden mittlerweile von der TDF dem Internationalen Roten Kreuz übergeben.

Strategie der äthiopischen Zentralregierung nach der Niederlage in Tigray

Als Reaktion auf den erzwungenen Rückzug aus weiten Teilen Tigrays verkündete Premierminister Abiy Ahmed Ali einen einseitigen befristeten Waffenstillstand bis September dieses Jahres, während gleichzeitig Telekommunikation, Finanzdienstleistungen und Stromversorgung blockiert bleiben.

Offensichtlich ist dieser Waffenstillstand nicht dazu gedacht, einen Schritt in Richtung Frieden zu machen, sondern soll der Regierung die Möglichkeit geben, sich neu zu formieren. Auch um die Blockade Tigrays umfassend aufrechtzuerhalten, bleiben Teile Tigrays weiterhin besetzt.

Hilfslieferungen werden an der Weiterfahrt gehindert, obwohl tausende Menschen in Tigray vom Hungertod bedroht sind. Nichtregierungsorganisationen wird der Zugang zu den hilfsbedürftigen Menschen verwehrt, einige Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wurden ermordet.

Um den Menschen in Tigray wirksam von humanitären Lieferungen und die ganze Region von jeglichem Außenkontakt abzuschneiden, wurden insbesondere im nach wie vor besetzten Westen Tigrays an der Grenze zum Sudan die Truppen der äthiopischen Zentralarmee, amharische Milizen und eritreische Soldaten erheblich verstärkt.

Vermutlich wurde angenommen, dass die TDF ihre ganze Kraft in eine Rückeroberung Westtigrays legen würde. Mit schweren Waffen und im dort vorherrschenden ebenen Terrain hoffte man der TDF eine Niederlage beibringen zu können.

Jeglichen Gesprächen mit der Regierung Tigrays wurde kategorisch eine Absage erteilt und Vermittlungsangebote, etwa des Sudan, wurden zurückgewiesen. Schließlich hatte man die TPLF regierungsseitig zu einer Terrororganisation erklärt.

Die TPLF signalisierte Gesprächsbereitschaft allerdings unter der Bedingung, dass sich alle fremden Truppen vom Gebiet Tigrays zurückziehen und dass die Blockade aufgehoben wird. Ohne ein Ende der Blockade ist ein großer Teil der Bevölkerung vom Hungertod bedroht.