Zerbricht Äthiopien im Bürgerkrieg?

Seite 2: Der Bürgerkrieg erfasst Äthiopien zunehmend auch außerhalb von Tigray

Anders als von der Zentralregierung erwartet, entschied sich die TDF nicht für eine Rückeroberung Westtigrays. Dort ist das Land weitgehend eben und damit ungeeignet für einen Guerillakampf. Zudem hat die Zentralregierung, amharische Milizen und Eritreer dort ihre Hauptstreitmacht konzentriert. Westtigray sollte für die TDF zu Falle werden.

Angesichts dieser Situation rückten trigrayische Streitkräfte statt nach Westen nach Süden und Osten in die benachbarten Bundesländer Amhara und Afar vor. Insbesondere in Amhara sind die Streitkräfte mittlerweile weit nach Süden vorgestoßen.

Schlagzeilen in internationalen Medien machte die Eroberung von Lalibela durch die TDF. Lalibela ist bekannt durch die berühmten und als Unesco-Kulturerbe anerkannten Felsenkirchen. Im Gegensatz zur Zerstörung von Gotteshäusern aus dem 9. Jahrhundert in Tigray durch eritreische und äthiopische Soldaten, wurden die alten Kirchen in Lalibela nicht beschädigt.

Die TPLF-Führung machte deutlich, dass sie nicht beabsichtigt, diese Gebiete auf Dauer zu besetzen. Sie will mit dieser Strategie nach eigenem Bekunden so viel Druck aufbauen, dass sich die Truppen aus dem besetzten Westtigray zurückziehen, dass die Blockade aufgehoben wird und dass echte Friedensgespräche begonnen werden können. Dabei wird die Zivilbevölkerung weitgehend gut behandelt und es wird versucht, die Menschen auf die eigene Seite zu ziehen.

Nach der Eroberung von Lalibela wird erwartet, dass die TDF den Druck in Richtung auf Gondar und die amharische Regionalhauptstadt Bahir Dar verstärkt.

Zentralregierung ruft alle waffenfähigen Einwohner zum Krieg

Die äthiopische Zentralregierung ist in der letzten Woche dazu übergegangen, eine Art Generalmobilmachung in Gang zu setzen. Sie organisierte große Kundgebungen in mehreren Landesteilen, durch die die Menschen zum Kampf mobilisiert werden sollen.

Abiy Ahmed Ali will anscheinend versuchen, durch die schiere Masse an Menschen - Äthiopien als Ganzes hat immerhin 110 Millionen Einwohner, in Tigray leben dagegen nur sechs Millionen - das militärische Blatt zu wenden.

Er forderte Zivilisten auf, zur Not mit Macheten und Äxten zu kämpfen. Viele Menschen durchliefen eine Art Blitztraining. Sie sollen in einer großen Gegenoffensive die TDF zurückdrängen und Tigray erneut erobern.

In dieser Situation werden Tigrayern in ganz Äthiopien unter Generalverdacht gestellt, viele werden verhaftet, es herrscht eine Pogromstimmung. Die Regierung schürt so ethnischer Hass.

Die in Göttingen ansässige Gesellschaft für bedrohte Völker schreibt dazu:

Der Aufruf des äthiopischen Ministerpräsidenten Ahmed Abiy an die Bevölkerung seines Landes, sich am Kampf gegen die Rebellenbewegung TPLF in Tigray zu beteiligen, ist unverantwortlich und muss als Anstachelung zu Mord und Totschlag gewertet werden. Das könnte sogar zu einem Völkermord eskalieren", sagte Nadja Grossenbacher, GfbV-Referentin für Genozidprävention und Schutzverantwortung, am Donnerstag in Göttingen. "Schon jetzt wurden schwerste Verbrechen an der Bevölkerung in Tigray begangen und Tausende mussten vor Gräueltaten fliehen. Abiy beschwört mit seinem Aufruf ein Schreckensszenario herauf.

Gesellschaft für bedrohte Völker

Eine erneute Offensive mit eiligst mobilisierten, schlecht ausgebildeten Zivilisten scheint unmittelbar bevorzustehen. Vieles erinnert an eine Art letztes Aufgebot. Die Motivation der neuen Rekruten scheint zumindest fraglich.

Die Regierung des Friedensnobelpreisträgers Abiy Ahmed Ali ist eher bereit, eine erhebliche Zahl an Menschen als Kanonenfutter zu opfern, anstatt ernsthafte Friedensgespräche - wie von der TPLF angeboten - zu beginnen.

Spannungen in Regionen, Anzeichen für Koalition gegen Zentralregierung

Abiy Ahmed Ali versucht eine Massenmobilisierung in allen Regionen gegen die Truppen des Bundeslandes Tigrays zu organisieren. Dabei wird allerdings deutlich, wie zerrissen Äthiopien außerhalb Tigrays in Wirklichkeit ist.

Interessant ist, dass sich in den von der TDF eroberten Gebieten außerhalb Tigrays Bevölkerungsteile von der Zentralregierung abwenden und mit der TDF kooperieren. So gibt es im Amharengebiet mittlerweile ethnische Minderheiten wie die Agaw oder die Qemant, die sich offen von der Zentralregierung und der amharischen Regionalregierung distanzieren und teilweise mit der TDF kooperieren.

Mitglieder der Agaw haben sich in ihrem Gebiet – zu dem auch Lalibela gehört – inzwischen sogar von Amhara unabhängig erklärt und eine Agaw Liberation Front (ALF) gegründet.

Im bevölkerungsreichsten Bundesland Oromia kämpft die OLA (Oromo Liberation Army) gegen die äthiopische Zentralregierung und hat in den letzten Wochen Kontrolle über die Provinz Nord-Shewa in Oromia gewonnen und ist weiter auf dem Vormarsch. Am 11. August erklärte der Anführer der OLA Kumsa Diriba, auch bekannt als Jaal Marroo, gegenüber der Nachrichtenagentur AP, dass sie nun sogar eine Allianz mit der TPLF eingegangen sind.

"Auch Gespräche über ein politisches Bündnis sind im Gange", sagte er und versicherte, dass andere Gruppen in Äthiopien an ähnlichen Diskussionen beteiligt sind: "Es wird eine große Koalition gegen das Regime (Abiy) geben."

In den Bundesstaaten Benishangul Gumuz und Gambela haben Oppositionsgruppen dazu aufgerufen die Oromo Liberation Army zu unterstützen, in Afar stellt sich eine Afar Liberation Front gegen die äthiopische Zentralregierung. Wie stark diese Gruppierungen sind und wie sie in der Bevölkerung verankert sind, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer abzuschätzen.

Zwischen äthiopischen Somalis und Afar hat es gewaltsame Zusammenstöße gegeben, die sich sogar auf Exilanten im benachbarten Djibouti ausgeweitet haben.

Von Einheit ist Äthiopien weit entfernt und während Abiy Ahmed Ali versucht, aus allen Regionen gegen die TPLF zu mobilisieren, deutet sich gleichzeitig eine Allianz aus allen Regionen gegen die Zentralregierung an. Es entsteht der Eindruck eines zutiefst gespaltenen und zerrissenen Landes.