Zermürbender Schattenalltag
Gefühl der Belastung steigt in der Bevölkerung, spiegelt der ARD-DeutschlandTrend wider. Experte fürchtet "psychische Corona-Korrosion". Einer der letzten Zufluchtsorte für unser zertrümmertes Sozialleben ist der Kiosk
49 Prozent der Deutschen nehmen die in Deutschland geltenden Corona-Einschränkungen als sehr starke bzw. starke Belastung wahr, davon 18 Prozent als "sehr stark". Das hat der aktuelle ARD-DeutschlandTrend ermittelt, wie gewohnt wurden gut 1.000 Wahlberechtigte am Telefon befragt. Diesmal im Zeitraum zwischen 18. bis 20. Januar 2021. Wie repräsentativ diese sehr kleine Umfrage ist, bleibt dahingestellt. (Die verschärften Maßnahmen wurden am 20. Januar beschlossen, angekündigt waren sie schon die Tage zuvor).
Bei der letzten Befragung Mitte Dezember war diese Empfindung weniger verbreitet. Damals war es ein Drittel (33 Prozent), die die Maßnahmen als belastend wahrgenommen haben, jetzt ist es knapp die Hälfte.
Die knappe Mehrheit (51 Prozent) findet die Belastungen durch die Einschränkungen aktuell "weniger stark" (42 Prozent) oder "gar nicht stark" (9 Prozent). Ungefähr jede(r) zehnte in den langen Schlagen vor dem Bäcker könnte also die Klagen über Belastungen, die in jeder zweiten Person schlummern, leichterdings kontern? Weil sie oder er in einem Haus mit Garten wohnen und kontaktfreudige Nachbarn haben, aber keine Kinder im Schulalter, dafür Hunde, die auch in der Ausgangssperre ausgeführt werden müssen? Oder weil sie ganz einfach vernünftig sind und besonnen ihren Hobbys nachgehen und die abonnierte SZ täglich von vorne bis hinten lesen oder Loyolas Exerzitien? Oder weil sie ganz einfach Weltmeister des "Was richtig ist, ist richtig" sind?
Und weil sie schon alle ihre interessanten zwischenmenschlichen Erfahrungen in früheren wilderen Zeiten gemacht haben?
Jüngeren Wahlberechtigten fallen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schwerer als den Älteren. Bei den unter 40-Jährigen sprechen sechs von zehn (59 Prozent) von starken bis sehr starken Belastungen. Bei den über 65-Jährigen sind es knapp vier von zehn (37 Prozent).
Tagesschau, ARD-DeutschlandTrend
Offenbar ist es aber gar nicht so, dass diejenigen, die keine oder kaum Belastungen durch die "Corona-Einschränkungen" verspüren, sich nicht auch ärgern.
Zum Corona-Krisenmanagement von Bund und Ländern überwiegt in der Bevölkerung mittlerweile ein kritisches Urteil: Gut die Hälfte der Deutschen (54 Prozent) zeigt sich aktuell weniger oder gar nicht zufrieden mit dem Krisenmanagement. 46 Prozent der Befragten sind zufrieden oder sehr zufrieden.
Tagesschau, ARD-DeutschlandTrend
Mitte Dezember war das noch umgekehrt. Vor Bekanntgabe des neuen Lockdowns äußerten sich noch 57 Prozent positiv zum Krisenmanagement und 42 Prozent negativ, konstatiert die Tagesschau.
Nur unter den Unionsanhängern findet sich eine stark ausgeprägte Dreiviertel-Mehrheit für das Corona-Krisenmanagement unter Kanzlerin Merkel. Die Anhänger von SPD und Grünen teilen sich in etwa gleich große Lager auf. Sehr viele Kritiker finden sich unter den Anhängern von FDP (80 Prozent) und der AfD (93 Prozent).
Wäre am nächsten Sonntag Bundestagswahl würde dieses Protestpotential den beiden Parteien ausweislich der repräsentativen DeutschlandTrend-Umfrage von infratest dimap nicht viel nützen. Sie würden nichts hinzugewinnen, die meisten Stimmen bekämen die Union (34 Prozent), die Grünen (21 Prozent) und die SPD, die mit 15 Prozent als einzige Partei einen (!) Prozentpunkt zulegt. Stabile Verhältnisse?
Das Eigentümliche an der augenblicklichen Lage ist, dass vieles nicht offen dargelegt wird, Misstrauen und Angst haben mit der Corona-Krise weiter zugelegt. Manchmal bringt ein Gespräch im Supermarkt, das länger als fünf Minuten dauert, andere Einstellungen zutage als die, die am Anfang geäußert wurden. Vorsicht und Abstand werden nicht nur wegen der Virus-Ansteckungsgefahr praktiziert.
"Politisches Narrativ wirkt zunehmend vergeblich und ermüdend"
In der Pandemie sei ein Schattenalltag entstanden, heißt es zur "Seelenlage der Deutschen" in einem Bericht der Welt. Zitiert wird darin der Kölner Psychologe Stephan Grünewald, der dem Corona-Expertenrat der nordrhein-westfälischen Landesregierung angehört. Grünewald fürchtet, dass in der psychologischen Großwetterlage die Politik mit ihrem aktuellen Kurs immer mehr Gefahr laufe, die Menschen nicht mehr zu erreichen und zu überzeugen. "Die Politik ist sehr in einer Kurzfristperspektive gefangen und hangelt sich von einer Krisensitzung zur nächsten, garniert mit einem Prinzip Hoffnung."
Das politische Narrativ, das den Menschen vorgaukelt, dass alles gut wird, wenn wir jetzt nur gut durchhalten, wirkt zunehmend vergeblich und ermüdend", sagte Grünewald in einem Telefonat.
Die Welt
Grünewald ist Mitgründer eines Forschungsinstituts, das Tiefeninterviews durchführt. Seit März 2020 spiele Corona bei allen Interviews eine wichtige Rolle. Zu den Erkenntnissen gehört, dass nach der Wiederentdeckung der Langsamkeit im Frühling nun alles anders wahrgenommen wird, noch ist wieder alles hektisch wie früher, mehr noch: "Das Arbeitsleben laufe nicht nur hochtourig weiter, viele Menschen befänden sich gar in einem 'Zustand der besinnungslosen Betriebsamkeit'", heißt es in dem Zeitungsbericht. Grünewald spricht von einer "psychischen Corona-Korrosion": Der Corona-Alltag zermürbe, die Menschen würden unter der Eintönigkeikeit leiden.
Grundsätzlich haben viele in ihrem persönlichen Leben mittlerweile Corona-Schlupflöcher gefunden und Grauzonen eingerichtet. "Wie in der Schattenwirtschaft der früheren DDR ist in der Pandemie ein Schattenalltag entstanden, in dem man sich Auszeiten von den Corona-Regeln gönnt", so Grünewald.
Die Welt
Gerichtsentscheidungen
Manche Regeln oder Maßnahmen stehen allerdings auch auf einem rechtlich dünnen Boden, wie sich bei Gerichtsentscheidungen bereits gezeigt hat oder erst noch entschieden wird (Corona: Lockdown vs. Grundgesetz).
Auch Ich, Söder, Kaiser und Gott hat vergangene Woche eine Schlappe hinnehmen müssen: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof entschied am Dienstag, dass die Anordnung eines Alkoholverbots für die gesamte Fläche des Freistaats Bayern die Verordnungsermächtigung, die der Bundesgesetzgeber hier erteilt habe, überschreitet.
Paragraph 28a des Infektionsschutzgesetzes sehe Alkoholverbote nur an bestimmten öffentlichen Plätzen vor, so die Begründung. Bevor sich jetzt alle zu früh freuen und wild tanzend die Bierflaschen schwingend in der Winterluft Viren austauschen: Die Bayerische Staatskanzlei ließ flugs verlauten, dass nun eben wieder "die alte Regelung" gelten werde, wonach die Kommunen den Alkoholkonsum an bestimmten Plätzen verbieten.
Warum dies überhaupt wichtig ist? Die Hetzreden auf entfesselte Bier- und Glühweintrinker im bayerischen Winter waren aus infektiologischer Sicht schwer nachvollziehbar. Eine FFP2-Maskenpflicht oder sogar die nächtliche Ausgangssperre ergeben hier deutlich mehr Sinn - auch wenn die Verhältnismäßigkeit der letztgenannten Maßnahme mit den gesunkenen Inzidenzwerten inzwischen eine Überprüfung verdient hätte.
Der letzte Zufluchtsort
Der letzte Zufluchtsort für unser gebeuteltes (zertrümmertes) Sozialleben ist der Kiosk. Hier gibt es warme Getränke (seit 11. Dezember ohne Alkohol), einen warmen Blick (das Lächeln sieht man nicht hinter der Maske) und warme Würstel. Wärme, die wir so dringend brauchen. Nie habe ich gesehen, dass dort irgendwelche Abstandregeln missachtet wurden.
"Kein Ausschank von alkoholischen Getränken", diese wenig schöne Proklamation zierte dann plötzlich die Fenster nahezu aller unserer Lieblingskioske und To-Go-Straßenverkäufe. Künftig können wir am Kiosk nun vielleicht wieder Bier und Glühwein kaufen.
Ein einziger Kiosk jedoch, der nicht näher genannt werden möchte, hat auch schon vor dem Einkassieren der Regelung verbotenes Bier verkauft. Zum Mitnehmen versteht sich.