Zinspolitik der Türkei: der Anfang vom Ende Erdogans?

Die türkische Lira ist auf historischem Tiefstand. In der darbenden Bevölkerung regt sich Widerstand. Trotzdem hat Erdogan neue Zinssenkungen angeordnet. Was bezweckt er damit?

Immer weniger Menschen in der Türkei können sich die notwendigsten Grundnahrungsmittel leisten, weil die Preise täglich steigen. Die Türkei ist ein Land, das mehr Waren und Dienstleistungen importiert als exportiert. Fällt der Wert der Lira, werden zwar Exporte immer preiswerter, die Waren aus der Türkei werden im Ausland also billiger. Importe hingegen verteuern sich. Die Türkei ist genauso wie Deutschland und viele Länder von den Teuerungen, zum Beispiel bei Öl oder Lebensmitteln betroffen – was natürlich überall zu höheren Inflationsraten führt.

Wenn allerdings die Lira wie momentan gegen über Dollar und Euro exponentiell an Wert verliert – ein Euro sind gegenwärtig etwa 15,1 Lira –, werden auch die importierten Produkte exponentiell teurer. Die Inlandsproduktion kann das nicht kompensieren. Im Gegenteil, es destabilisiert die Produktion und den Handel in der Türkei gleichermaßen. Wegen der schwachen Lira verlangen die Warenlieferanten für Aufträge Bargeld im Voraus oder bestehen auf Verträgen in Fremdwährung.

Soziale Netze brechen zusammen

Dabei hatte der Präsident doch sein Volk dazu aufgerufen, alle Euros und Dollars im Sparstrumpf gegen türkische Lira zu tauschen. Wer diesem Aufruf folgte, hat heute sehr viel verloren – nicht nur an Geldwert, sondern auch den Glauben an Staatspräsident Erdogan. Das birgt sozialen Sprengstoff für das Land.

Sehr lange konnten die Menschen in der Türkei die destruktive Politik der Regierung kompensieren. Man unterstützte sich im Freundes - und Familienkreis, einer half dem anderen. Wenn nichts mehr ging, zückte man die Kreditkarte. Aber deren Limits sind längst ausgereizt. Die sozialen Netze in der Türkei brechen zusammen.

Die türkische Lira hat in diesem Jahr 40 Prozent ihres Wertes verloren, Tendenz steigend. Denn Erdogan verteidigte die angeordnete erneute Senkung des Leitzinses mit dem Argument, die Türkei befinde sich in einem "ökonomischen Unabhängigkeitskrieg". Diese Propagandaparole soll anscheinend die Menschen auf harte Zeiten und auf den Feind von außen einstimmen. Wie lange geht das noch gut?

Proteste gegen die Regierung, aber auch gegen "Deutschtürken"

Immer weniger Menschen lassen sich mit der Propaganda der Staatsmedien einfangen, wenn ihnen das Notwendigste zum täglichen Leben fehlt. Früher kostete ein Liter Rapsöl weniger als zehn Lira, heute zahlt man 40 bis 50 Lira. Früher kostete die Butter 35 Lira, jetzt sind es 95 Lira. "Für einen Einkauf, der früher 50 Lira kostete, zahlen wir jetzt 250 Lira", sagt eine Kundin auf einem Markt in Istanbul der Nachrichtenagentur ANF. Dann zeigt sie auf zwei kleine Einkaufstüten. Viel mehr sei mit fünfzig Lira inzwischen nicht mehr zu haben. Ihre Miete könne sie sich nicht mehr leisten.

Ein Marktstandbetreiber berichtet: "Maximal 50 Lira können Kunden ausgeben, die hier einkaufen kommen. Es reicht für eine Packung Eier und zwei Kilo Tomaten. Dann ist das Geld weg." Ein anderer Marktbesucher kommentiert: "Die Heimat gehört uns allen, aber die Wut richtet sich nicht auf das Land, sie richtet sich auf die Regierung. Die Menschen beschuldigen niemanden einfach so. Heute liegt der Mindestlohn bei 2.600 Lira, aber was der reiche Mann will, das geschieht. Erdoğan bekommt 100.000 Lira Lohn. Er verdient sie nicht, wir geben sie ihm. Die Regierung geht, wenn wir ihr keine Stimmen geben."

Mit einem Mindestlohn von 18,35 Lira die Stunde, also einem Monatslohn von 2.600 bis 2.800 Lira – umgerechnet keine 200 Euro – sind gerade mal die Kosten für die notwendigsten Lebensmittel einer dreiköpfigen Familie gedeckt - Miete, Strom und andere Kosten nicht eingerechnet. In den letzten Tagen kam es zu spontanen Protesten in Ankara, Istanbul und weiteren Städten der Türkei gegen die AKP-Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. "Hükümet istifa – Regierung, tritt zurück" war die lautstarke Parole.

Zu den Protesten hatten nach Angaben der Nachrichtenplattform Bianet linke Parteien wie etwa die Arbeiterpartei der Türkei (TIP) und die Kommunistische Partei (TKP) aufgerufen, denen sich spontan viele Passanten anschlossen. In Ankara und Diyarbakir protestierten Anwohner lautstark mit Töpfen und Pfannen auf ihren Balkonen. Während die kemalistische Oppositionspartei CHP ihre Parteiverbände anwies, sich "nicht an diesen illegalen Protestaktionen zu beteiligen", rief der ehemalige Ko-Vorsitzende der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, aus dem Gefängnis heraus zu gemeinsamen Demonstrationen auf und forderte sofortige Neuwahlen.

Immer mehr türkische Staatsbürger verfluchen sich selbst, die AKP gewählt zu haben. Die jüngere Generation sieht ihre Zukunft eher im Ausland. "Die Menschen hier in Agri verlassen ihre Heimat zu Hunderten und Tausenden", erzählt Ahmed im Interview mit t-online.

Interessant ist, dass es mittlerweile auch Proteste und dokumentierte Auseinandersetzungen zwischen konservativen Deutschtürken und in der Türkei lebenden Türken gibt. In einem Video aus Istanbul wird ein mutmaßlich konservativer Deutschtürke dafür beschimpft, dass er billig Urlaub in der Türkei mache und die Deutschtürken durch die Wahl der AKP und Erdogans den Menschen in der Türkei das Desaster mit eingebrockt hätten. Leben wolle er aber in der Türkei nicht, so die aufgebrachten Istanbuler.

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