"Zombie-Parlament" soll mit Neuwahl am 12. Dezember abgelöst werden
Inzwischen geht auch die britische Regierung nicht mehr davon aus, dass der Ausstiegstermin 31. Oktober noch zu halten ist
Mit Schatzkanzler Sajid Javid hat heute ein britisches Regierungsmitglied öffentlich eingestanden, dass der 31. Oktober als Ausstiegstermin Großbritanniens aus der EU nicht mehr zu halten ist, nachdem sich das Unterhaus weigerte, über Boris Johnsons mit Jean-Claude-Juncker ausgehandelten neuen Deal und die damit verbundenen Ratifizierungsgesetze schneller zu entscheiden als üblich. Diesem "Zombie-Parlament" will der Tory nun durch eine vorgezogene Neuwahl ein Ende gesetzt sehen.
Premierminister Boris Johnson hatte sich gestern derselben Ansicht gezeigt, als er twitterte: "Wenn dieses Parlament den Brexit nicht hinbekommt, dann brauchen wir ein anderes, das das schafft." Johnsons Wunschtermin für eine vorgezogene Neuwahl ist der 12. Dezember, einer der im Vereinigten Königreich für Wahlen üblichen Donnerstage.
Tories zehn bis 15 Punkte vor Labour
Einen Antrag für eine vorgezogene Neuwahl an diesem Tag will die Regierung Parlamentsminister Jacob Rees-Mogg zufolge am Montag zur Abstimmung vorlegen. Ob dieser Antrag auf die für seine Annahme erforderliche Zweidrittelmehrheit kommt, hängt an Abgeordneten der Labour Party. Denn während die anderen beiden größeren Oppositionsparteien, die Liberaldemokraten und die Scottish National Party (SNP), bereits ihre Zustimmung signalisierten, äußerte sich der Labour-Chef Jeremy Corbyn zurückhaltender.
Dieser Unterschied könnte auch mit Umfragen zu tun haben, denen zufolge Tories, Liberaldemokraten und schottische Separatisten bei solchen Wahlen deutlich weniger zu fürchten haben als die Labour Party. Sie liegt mit 22 bis 27 Prozent Stimmenanteil in den letzten drei Erhebungen sehr deutlich hinter Johnsons Tories, die dort auf 36 bis 37 Prozent kommen. Da im britischen First-Past-the-Post-Mehrheitswahlrecht der Abstand zur zweitstärksten Partei mehr über die zu erwartende Zahl der Sitze aussagt als der Stimmenanteil, könnten diese 36 bis 37 Prozent für eine klare Tory-Mehrheit in einem neuen Unterhaus durchaus reichen.
Damit, dass der EU-Rat die Verlängerung nicht genehmigt, rechnet niemand mehr
Offiziell nennt Corbyn jedoch die noch nicht gefallene Entscheidung über eine Genehmigung des Verlängerungsantrags in Brüssel und die seinen Worten nach weiter bestehende Gefahr eines "harten" Brexits als Grund für sein Zögern. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat allerdings schon eine Genehmigung der Verlängerung in Aussicht gestellt. Dem Europaparlament sagte der Kaschube, ein No-Deal-Brexit werde "niemals unsere Entscheidung sein".
Auch Boris Johnson rechnet anscheinend nicht damit, dass sich ein EU-Mitgliedsland gegen eine Verlängerung stellt. Ihm wäre aber nach eigenen Angaben eine kurze Verlängerung "bis zum 15. oder zum 30. November" lieber als die zwangsweise bis zum 31. Januar beantragte. Der BBC-Europakorrespondent Kevin Connolly geht jedoch davon aus, dass die Vertreter der meisten verbleibenden EU-Mitgliedsländer zu einer dritten Option tendieren: einer Verlängerung bis zum 31. Januar, verbunden mit der Option, bereits früher auszusteigen, wenn Johnsons Deal vom britischen Unterhaus früher ratifiziert wird.
Ursache oder Symptom einer Spaltung?
Das soll dem britischen Premierminister zufolge auch deshalb möglichst schnell geschehen, damit sich die Regierung anderen Vorhaben zuwenden kann und das Land nicht weiter "gespalten" wird. Ob sich dieser Wunsch erfüllt, wird die Zukunft zeigen. Möglicherweise ist der Brexit-Streit auch weniger Ursache als Symptom eines politkulturellen Tribalismus, der sich auch in anderen westlichen Ländern entwickelt hat.
Möglicherweise ändert sein Ende nichts daran, dass es an der Oxford-Universität Studenten gibt, die mit heiligem Ernst das Klatschen verbieten, während sich andere Briten solchen Baizuos ferner fühlen als den Chinesen, die den Begriff für dieses Phänomen geprägt haben. Und möglicherweise wird es Letztere nicht beruhigen, dass ein Premierminister zehntausende neue Polizistenstellen einrichtet, wenn sich diese Polizisten dann Fällen wie diesem widmen (vgl. Hate-Speech-Hubschraubereinsatz statt Terroristenüberwachung).
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