Zu Weihnachten bitte keine Maßnahmenpakete

Bild: Gerd Altmann/Pixabay

Lockdown light - oder darf's etwas mehr sein?

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Mitte Oktober beschloss die Bundeskanzlerin gemeinsam mit den Ministerpräsidenten eine Verschärfung der Eindämmungsmaßnahmen für lokale Corona-Hotspots. Nach einer weiteren Steigerung der Fallzahlen kamen Anfang November nochmals strengere Kontaktregeln sowie weitreichende Verbote hinzu - insbesondere im Kultur-, Sport- und Gastronomiebereich.

Dennoch liegt das beschlossene Ziel, die sogenannte 7-Tage-Inzidenz deutschlandweit unter "50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner" zu senken, in weiter Ferne. Derzeit verzeichnet die Statistik bundesweit 158 Positiv-Getestete pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche. Am Montag beraten die Regierungschefs erneut per Videokonferenz über "notwendige Anpassungen".

Noch im August hatte Merkel einen erneuten "Lockdown" nahezu ausgeschlossen. "Wir wissen mittlerweile so viel über das Virus, dass wir uns aufgrund dessen über eine große zweite Welle im Sinne eines neuen Lockdowns nicht sorgen müssen." Mittlerweile haben wir den sogenannten Lockdown-light, dessen Maßnahmen vorläufig bis Ende November befristet sind. Wenn die geltenden Regeln nicht bereits am Montag geändert werden, kommt spätestens Ende des Monats ein neues Maßnahmenpaket.

"Neuinfektionen" - die bröselige Datenbasis

Aber auf welcher Datengrundlage lassen sich freiheitseinschränkende Schutzmaßnahmen derzeit rechtfertigen?

Politik und Medien stellen seit Monaten die Zahl der täglichen "Neuinfektionen" in den Mittelpunkt, wobei bereits das Wort falsch gewählt ist. Wie viele Neuinfektionen es gibt, ist nicht annähernd bekannt. Die täglich veröffentlichten Fallzahlen beziehen sich ausschließlich auf Personen, die dem RKI am jeweiligen Tag als positiv-getestet gemeldet werden. Das statistische Hauptproblem ist dabei die Dunkelziffer: Solange man nicht weiß, wie viele Menschen sich unerkannt infizieren, kennt man nur die Zahl der Testpositiven, nicht aber die Zahl der Neuinfizierten.

Aber auch die Entwicklung der Testpositiven-Zahlen könnte aufschlussreich sein, gäbe es da nicht ein paar Unregelmäßigkeiten, die die Statistik gründlich verhageln:

• Die Zahl der durchgeführten Tests ändert sich ständig und ist von Anfang Oktober bis heute um mehr als 40 % gestiegen. Je mehr Menschen man testet, desto mehr Positive wird man entdecken.

• Anfang Oktober waren 2,5 % aller Tests positiv, heute sind es 7,9 %. Das tatsächliche Infektionsgeschehen spielt sich also vermutlich zunehmend im Bereich der Dunkelziffer ab.

• Seit März hat sich die Teststrategie mehrfach geändert. Mit der neuesten Variante vom 3. November (Anm. d. Red: Hier wurde das Datum von 15. Oktober auf 3. November geändert) wurde der Kreis der zu testenden Personen deutlich eingeschränkt: Wer nur leichte Symptome entwickelt, soll nur noch in Ausnahmefällen getestet werden. Diese Einschränkung führt nicht nur zu einer Erhöhung der Dunkelziffer; die Zahlen ab dem 03.11 sind mit den Zahlen vor dem 03.11. statistisch nicht mehr reell vergleichbar (Anm. d. Red.: Auch hier wurden die Datumsangaben von 15.10 auf 03.11. korrigiert).

Ohne die Ausweitung des Infektionsgeschehens innerhalb der letzten Wochen bestreiten zu wollen: Sobald die Messlatte für Eindämmungsmaßnahmen ausschließlich an die 7-Tage-Inzidenz gebunden ist, sollte man schon hinterfragen, wie genau und valide die Testpositiven-Zahlen überhaupt sind, die dieser Inzidenzrechnung zugrundeliegen. Wir reden hier immerhin über das Außerkraftsetzen von Grundrechten.

Was heute gemessen wird, muss wochenlang nachkorrigiert werden

Die allmorgendlich gehypten Testpositiven-Zahlen tragen zwar dem allgemeinen Bedürfnis nach breaking news Rechnung, sind aber für eine genaue Lagebeurteilung aus den genannten Gründen wenig geeignet. Das RKI weiß um die schlechte Datenqualität, recherchiert jeden Fall deshalb für die R-Wert-Berechnung nach und veröffentlicht das Ergebnis nach vier Tagen erneut. Doch auch die aufbereiteten Zahlen werden über Wochen immer wieder und z. T. erheblich korrigiert.

Ein beliebiges Beispiel: Das RKI hatte für den 31.10. tagesaktuell 19.059 Neufälle gemeldet. Für die vier Tage später vorgenommene R-Wert-Berechnung ging man aber von lediglich 9.475 Neufällen am 31.10. aus. Der R-Wert wurde mit 0,92 angegeben.

Heute nimmt das RKI für den 31. Oktober 16.018 Neuerkrankungen an.

Damals wurde also aus heutiger Sicht ein zu niedriger R-Wert veröffentlicht, den das RKI mittlerweile entsprechend auf 1,05 erhöht hat (zwischen R=0,92 und R=1,05 liegen Welten).

In den letzten Tagen wurden häufig R-Werte unterhalb 1 veröffentlicht. Wir können davon ausgehen, dass diese Werte nicht die Realität abbilden. So werden sie auch vom RKI täglich nachkorrigiert, aber davon bekommt die Öffentlichkeit kaum etwas mit.

Auf einer derart schwammigen Datenbasis 7-Tage-Inzidenzen zu ermitteln, die dann einschneidende Maßnahmen zur Folge haben, ist abenteuerlich. Entsprechendes Problembewusstsein scheint es aber nicht zu geben - im Gegenteil: Schwellenwerte bei "Neuinfektionen" sollen als Maßnahmenmarker am kommenden Mittwoch gesetzlich festgeschrieben werden.

Wann kommt das Tagesregister für Covid-19-Krankenhauspatienten?

Um an statistisch aussagekräftige Daten zu kommen, wäre ein Hospitalisiertenregister für Covid-19-Patienten vermutlich die einfachste und effektivste Lösung. Pro Woche kommen derzeit etwa 4000 Covid-19-Patienten ins Krankenhaus. (Nur ein kleiner Teil davon muss intensivmedizinisch betreut werden.)

Würden alle deutschen Kliniken täglich jede dieser Einweisungen ans RKI melden, erhielte man eine hochwertige Datenbasis zur Beurteilung des Infektionsgeschehens.

Da schwere Coronaverläufe im Durchschnitt bereits vier Tage nach Symptombeginn zu einer Krankenhauseinweisung führen, wären entsprechende Hospitalisiertenzahlen genau so zeitnah am aktuellen Geschehen, wie die mit Meldeverzug behafteten, qualitativ minderwertigen "Neuinfektionszahlen".

Spahns Befürchtung: Bedarf an Intensivplätzen verdoppelt sich bis Monatsende

Erfreulicherweise nehmen Politik und Medien seit kurzem die Zahl der Covid-19-Intensivpatienten verstärkt in den Blick. Die entsprechenden DIVI-Daten bieten die bislang valideste Corona-Datengrundlage. Sie informieren außerdem über eine der aktuell sensibelsten Problemlagen: die Auslastung der Intensivstationen (ITS).

Am 12. November kam die Meldung: "Bundesgesundheitsminister Spahn befürchtet eine Verdoppelung der Zahl der Corona-Patienten auf Intensivstationen noch in diesem Monat." Demnach spekuliert Spahn mit einem zusätzlichen Bedarf von 3000 Intensivplätzen; und wir können davon ausgehen, dass solche Hochrechnungen einen großen Einfluss auf das nächste Maßnahmenpaket haben werden.

Aber ist Spahns düstere Vorhersage überhaupt realistisch?

Tatsächlich steigen die DIVI-Zahlen seit Oktober massiv an und sind mit aktuell 3325 intensivmedizinsch behandelten Covid-19-Patienten auf einem historischen Höchststand. Betrachtet man jedoch die Anstiegsdynamik der vergangenen vier Wochen, kann von dem mehr oder weniger exponentiellen Wachstum vor dem 4.11. derzeit keine Rede mehr sein. (Die Aufnahme von ITS-Patienten aus Nachbarländern bringt bisher übrigens keine nennenswerte Statistik-Verfälschung).

Exponentielles Wachstum bei Covid-19-Intensivpatienten vorerst gestoppt

Das Diagramm zeigt, um wie viele Patienten der Covid-19-ITS-Bettenbedarf pro Tag angestiegen ist. Seit zehn Tagen deutet sich eine Verlangsamung des Wachstums an, wobei sich dieser Trend jederzeit wieder ändern kann.

Aber selbst wenn die Wachstumsverlangsamung nicht fortschreitet: Nehmen wir den Durchschnitt der letzten vier Wochen (täglicher ITS-Bedarfszuwachs: 90 Plätze) als Kennzahl und rechnen dies bis Ende November (noch 16 Tage) hoch, ergibt sich bis dahin ein zusätzlichen Bedarf von 1.440 ITS-Plätzen (16 x 90 = 1.440). Das ist nur etwa die Hälfte des Spahn-Szenarios.

Es ist dennoch keine Frage: Bei derzeit 5500 freien Intensivbetten (Kinder-Intensivbetten nicht eingerechnet) und den bereits berichteten lokalen Engpässen, kann man sich mit Blick auf den kommenden Winter nicht entspannt zurücklehnen.

Eine rein hypothetische und angesichts der deutschlandweiten Verteilungsproblematik auch sehr theoretische Rechnung: Würde die Zahl der belegten Covid-19-Intensivbetten weiterhin täglich um 90 wachsen, wären die aktuell 5500 freien Plätze nach 61 Tagen, also Mitte Januar, belegt. Dann bliebe nur noch die Notfallreserve (11.820 ITS-Plätze), hinter deren Aktivierung aufgrund von Personalengpässen ein großes Fragezeichen steht.