Zur Diskussion über die Tötung von "lebensunwertem" Leben
Soll man sich mit den Vorschlägen des australischen Bioethikers Peter Singer auseinandersetzen oder sie tabuisieren?
"Wir meinen", so schreiben Peter Singer und Helga Kuhse in dem Buch "Should the baby live?", dessen Veröffentlichung in Deutschland nach starker Kritik bislang unterblieben ist,"daß einige Kinder mit schweren Behinderungen getötet werden sollten."
Wieder einmal ist der australische Bio-Ethiker Peter Singer, überzeugter Tierschützer und Vegetarier, dessen jüdische Großeltern von den Nazis ermordet wurden, in Deutschland von einer Veranstaltung, an der teilnehmen sollte, wegen solcher Thesen kurzfristig ausgeladen worden. Man drohte den Veranstaltern des Kongresses über Fundamentalismus und Beliebigkeit in Wissenschaft und Therapie (1.-5. Mai 1996 in Heidelberg) mit Harakiri-Aktionen von Behinderten, die Selbstverletzungen und Verletzungen anderer einschließen könnten, wenn Singer dort auftreten sollte.
Es war nicht das erste Mal, daß Singer in deutschsprachigen Ländern aus Furcht vor gewalttätigen Aktionen wieder ausgeladen wurde, daß man Mitarbeiter eines Verlages bedrohte, in dem ein Buch von ihm erscheinen sollte, daß man eine öffentliche Diskussion über seine Thesen verhindern wollte. Vor allem wird sein Vorschlag kritisiert, daß man schwerstbehinderte Säuglinge bis zu einem Monat nach ihrer Geburt unter strengen Bedingungen töten dürfe, um künftiges Leid für sie zu ersparen. Und töten dürfe man sie, wenn es sich um lebensunwertes Leben handelt. Ein Wort aus der Terminologie der Faschisten, das zurecht schlimme Erinnerungen weckt. Durch ein Redeverbot Singers glauben manche, den Anfängen einer neuen Euthanasie Einhalt geben zu können. Die uneingeschränkte Unantastbarkeit oder Heiligkeit des menschlichen Lebens müsse unter allen Umständen und bis hin zur Einschränkung der Meinungsfreiheit geschützt werden.
Täglich entscheiden allerdings Ärzte unter Gewissensnot über Leben und Tod von schwerstbehinderten Säuglingen oder alten Menschen. Die Abtreibung von schwerstbehinderten Embryos ist gesetzlich erlaubt, aber nicht die von bereits Geborenen, deren Behinderung man nicht frühzeitig diagnostizieren konnte oder dies versäumt hatte. Um Organspender zu haben, wurde in den sechziger Jahren das Todeskriterium vom Herz-Kreislauf-Tod auf die Feststellung des Hirntodes verändert. Gerade diskutiert man über das Kriterium des Teilhirntodes. Wenn jemand für tot erklärt wird, weil sein Hirn irreversibel geschädigt und er keine Person mehr ist, obgleich andere Körperfunktionen noch vorhanden sind, dann kann man ihm Organe entnehmen. Diskutiert wird auch über Sterbehilfe. Aber wir haben heute kein kohärentes Weltbild und keine allgemeingültige Ethik mehr, um sich bei solchen Fällen zu orientieren. Individualisierung zieht eben auch in die Ethik ein.
Neue technische Möglichkeiten verschieben die Grenzen zwischen Tod und Leben. Oft hat man je nach Fall verschiedene Kriterien für die Unantastbarkeit des Lebens. So gilt, vielleicht weil man für Hirngewebeverpflanzung lebendiges "Material" benötigt, bei abgetriebenen Föten noch die Feststellung des Herz-Kreislauftodes, während für Geborene und Erwachsene die des Hirntodes angewendet wird. Mit der Gentechnologie und vor allem dem Genomprojekt taucht vehement wieder die Praxis der Eugenik auf, deren schreckliche Folgen im nationalsozialistischen Deutschland den Widerstand gegen jede Art der Euthanasie hierzulande verständlich machen, auch wenn eugenische Maßnahmen im ersten Drittel dieses Jahrhunderts in vielen Ländern praktiziert wurden.
Peter Singer versucht mit seiner Ethik allgemeingültige und liberale Kriterien zu entwickeln, um die Beliebigkeit im Umgang mit Leben und Tod zu überwinden. Sie wird sich nicht ändern, wenn man Gedanken tabuisiert. Regelungen sind erforderlich und sollten nicht nur Stück für Stück klammheimlich dank technischer Innovationen eingeführt werden. Insgesamt entsteht durch Biotechnologien und Virtualisierung ein neues Verhältnis zum Körper der Informationsgesellschaft. Deswegen haben wir versucht, jenseits aller Aufgeregtheiten, seine Ethik in ihren Grundzügen vorzustellen und den Neurochirurgen und Medizinethiker Detlef Linke, der auf der Veranstaltung eigentlich mit ihm hätte diskutieren sollen, gebeten, seine Kritik an Singers Ethik zu formulieren.