Zur Lage im nordsyrischen Aleppo
Es muss dringend weiter, unter Beteiligung aller Parteien, verhandelt werden
Am 3. Februar wurden die "Friedensgespräche für Syrien" in Genf unterbrochen. Sie sollen erst am 25. Februar 2016 wieder aufgenommen werden. Die von der türkischen Regierung und Saudi-Arabien unterstützte syrische Opposition stellte die Forderung, dass das "syrische Regime und seine Verbündeten allen voran Russland ihre Offensive gegen die Stellungen der Opposition sofort beenden müssen".
Russland und das Regime fordern hingegen eine klare Definition der Opposition. Für Russland sind nicht nur der" Islamische Staat" (IS), sondern auch die Al Nusra-Front, Ahrar al Scham und die Armee des Islam "Terrororganisationen", die bekämpft werden müssten.
In der Tat haben das Regime und Russland während der Gespräche in Genf, die kaum angemessen begonnen haben, ihre großangelegte Militäroffensive nördlich von Aleppo fortgesetzt und dabei die zwei schiitischen Ortschaften, Nubul und Zahra, die seit 2012 von den islamistischen Gruppen eingekesselt waren, wieder unter ihre Kontrolle gebracht.
Während die eingekesselten Schiiten einen ganzen Tag ihre Befreiung durch Assads Truppen und Putins Luftwaffe gefeiert haben, muss die sunnitische Bevölkerung eine lange Belagerung durch Assad Truppen in Teilen von Aleppo befürchten.
Eine neue Phase der Flucht
Für die sunnitische Bevölkerung in der Region zwischen Aleppo und der türkischen Grenze beginnt eine neue Phase der Flucht. Tausenden Sunniten bewegten sich gestern in Richtung der türkischen Grenzen bei Azaz. Bis zum 5. Februar hat Afrin, eine im Nordwesten von Aleppo liegende kurdische Enklave, mindestens 10.000 arabisch-sunnitische Flüchtlinge aus der umkämpften Region Nord-Aleppo aufgenommen. Afrin wird von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kontrolliert.
Die YPG hat wiederum von der durch die syrisch-russische Offensive geschwächten Radikalislamisten "profitiert", in dem sie zwei seit 2012 von syrischen Islamisten gehaltenen kurdischen Ortschaften, al-Zyara und Khurebke, sowie einen strategisch wichtigen Hügel westlich des von Islamisten noch gehaltenen Militärflughafen Minakh erobert hat.
Die Politik der "dritten Linie"
In der mehrheitlich von Kurden bewohnten Enklave Afrin, die seit 2012 militärisch durch die YPG erfolgreich geschützt wird, wird die humanitäre und wirtschaftliche Lage immer mehr kritischer. Die von der kurdischen Partei PYD geführte provisorische Autonomieverwaltung dort steht unter massiver Kritik der lokalen kurdischen Bevölkerung. Viele Kurden befürchten, dass sich unter den tausenden arabisch-sunnitischen Flüchtlingen, die nach Afrin kommen, auch viele Dschihadisten befinden könnten.
Die PYD und Autonomieverwaltung befinden sich in einer nicht einfachen politischen Lage: Die Politik der "dritten Linie", zwischen dem Regime und der Opposition, wird immer schwieriger. Die PYD und viele andere kurdischen Organisationen wollen zwar einen Sturz des Regimes in Damaskus, befürchten jedoch eine Dominanz der protürkischen und prosaudischen radikalislamistischen Gruppen.
Daher plädiert die PYD für eine "Konsens-Lösung": Weder das Regime noch die islamistische Opposition dürfen einen "totalen Sieg" erringen. "Die Kurden bleiben stark, wenn die anderen schwach bleiben", lautet die Devise.
Wie sich die Lage in Aleppo und in den umliegenden Regionen entwickeln wird, hängt vor allem von der Haltung der türkischen Regierung ab. Wird Recep Tayyip Erdogan eine Niederlage seiner Politik in Nordsyrien akzeptieren? Oder geht er auf Konfrontation mit dem russischen Präsidenten Putin. Die Menschen in Aleppo jedoch wollen endlich Ruhe und Frieden. Sie wollen keine Luftangriffe, keine Fassbomben und vor allem keine Willkür der zahlreichen marodierenden bewaffneten Milizen jeglicher Couleur.
Daher muss dringend weiter, unter Beteiligung aller Parteien, verhandelt werden. Die Menschen in Syrien brauchen dringend eine friedliche Perspektive und eine Waffenruhe. Diese könnten nur die USA und Russland garantieren, nicht aber die miteinander konkurrierenden Regierungen in Ankara und Teheran.
Der Autor Kamal Sido, geboren in Afrin bei Aleppo, ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)