Zur Sonne, zur Freizeit
In "Super Mario Sunshine" gestaltet Mario seinen Urlaub und der Spieler sein Spiel gemäß den Gesetzen der Arbeitswelt
Während seiner bisherigen Karriere hat Mario so viele Goldmünzen und andere Schätze gesammelt, dass er längst einfach nichts tun könnte. Doch Mario ist ein digitalisierter Star. Deshalb konnte er in zwei Jahrzehnten weltweit in mehr als 40 Spielen auftreten. Deshalb war er sich als Star selbst für Titel wie "Preschool Fun" nicht zu schade. Jetzt macht er endlich Urlaub. Mit seinen bekannten Co-Stars wie Prinzessin Peach und ihrer Entourage aus dem Pilz-Königreich reist Mario auf die Insel Delfino, die irgendwo in der Vorstellungswelt des Designers Shigeru Miyamoto zwischen den Piazzas Italiens und den Baströcken der Südsee liegt.
Und natürlich muss Mario auch in der hitzeflirrenden Luft dort arbeiten, wo der Sand bisweilen so weiß wie ein iBook ist, anstatt so etwas wie freie Zeit zu genießen. Irgendjemand, der Mario sehr ähnlich sieht, überzieht die Insel mit Graffiti und einer glibberigen Farbschicht. Das Paradies ist in Gefahr und Mario unter Verdacht. Nach der Landung seines Ferienfliegers kommt Mario erst mal ins Gefängnis, dann vor Gericht und schließlich wieder raus - um die Insel mit einer Wasserkanone von den Farbverwüstungen zu reinigen. In die formale Spielstruktur übersetzt, bedeutet das: Mario muss bestenfalls alle 120 Insignien der Sonne einsammeln, springen, auf Seilen balancieren und die sogar als Trampolin benutzen.
Ein ästhetisches Erlebnis sind in Super Mario Sunshine vor allem Flüssigkeiten. Man kann für Minuten im Spiel verharren und schauen, wie sich grüne Hügel und Felswände im Wasser spiegeln, wie es sich beim Hineinspringen kräuselt, wie Pfützen Mario reflektieren oder wie der tauchende Held durch Wasser betrachtet aussieht. Ebenso reizvoll anzuschauen ist die zähflüssige Farbmasse, die immer mehr von der Insel Delfino bedeckt: Ähnlich wie der Blob wälzt sie sich voran. Tritt Mario hinein, verteilt er einige Zeit lang Fußstapfen auf der Spielwelt oder einen Farbfilm im Wasser. Vor allem mit Flüssigkeiten verändert Mario auch seine Umwelt: Er spritzt mit seiner Wasserkanone nicht nur die Farbe weg, sondern kann auch die Touristen wecken und verschrecken oder einige Gegner abfüllen. Der Minidinosaurier Yoshi frisst Früchte verschiedener Farben und spuckt dann einen flüssigen Cocktail aus, der - je nach Farbe der vorherigen Mahlzeit - ganz unterschiedlich wirkt.
Einen ähnlichen, kindlichen Reiz übt die gesamte Spielwelt aus: Unheimliche Windmühlen, riesige Wassermelonen zum umherkugeln und Palmen, die aussehen, als wären sie nur zum Draufklettern gewachsen - man muss auf der Insel Delfino ständig grinsen. Die Spielwelt ist nicht riesig, aber groß: Sechs Schauplätze, an denen jeweils acht Episoden gespielt werden. Hinzu kommen noch Bonus-Levels und des Stadtzentrum, von dem aus man in die verschiedenen Regionen aufbricht. Eine ähnliche Funktion hatte das Schloss im Vorgänger "Super Mario 64". Das war das erste Spiel überhaupt, in dem Mario in drei Dimensionen unterwegs war.
Eine ähnliche Revolution wie den damaligen Dimensionensprung erleben Spieler und Mario in "Super Mario Sunshine" nicht. Der Designer Shigeru Miyamoto spricht selbst von Evolution - doch bei wichtigen Details wie der Kameraführung ist die in den vergangenen sechs Jahren nicht weit genug vorangekommen. Häufig muss man die Perspektive mühsam justieren, um den Über- o der Durchblick zu behalten. Doch solche Probleme im Detail nehmen dem Meisterwerk "Super Mario Sunshine" nicht viel seiner Genialität. Das Spieldesign fesselt, macht Spaß und die Umgebung versetzt den Spieler in Urlaubsstimmung, selbst wenn oder gerade weil Mario sich bisweilen in der Hitze den Schweiß von der Stirn wischen muss.
Rainald Menge:
Mario: Videospielfigur mit Historie
Nahezu ein halbes Jahr mussten GameCube-Besitzer auf den quirligen Klempner mit dem markanten Schnauzbart warten, gönnte Nintendo diesmal seiner großen Leitfigur Mario im Startaufgebot lediglich eine kleine Nebenrolle in "Luigi's Mansion" (vgl. Würfelspiele).
Shigeru Miyamoto erschuf 1980 für den Jump-And-Run-Klassiker Donkey Kong einen Helden namens Jumpman - besondere Kennzeichen: rote Mütze, Schnauzbart, blauer Overall und rotes Hemd.
Nicht Willkür sondern die grafischen Bedingungen begründen die Accessoires: Eine Größe von 16 mal 16 Pixeln forderten einfache aber markante Ausstattung und vom Körper farblich abgegrenzte Arme. Seinen Namen und seine italienischen Wurzeln verdankt Mario dem italienischen Vermieter der New Yorker Nintendo-Büros, einem gewissen Mario Segali. Zum Klempner wurde er schließlich 1983 in Mario Bros, in dem auch zum ersten Mal sein Bruder Luigi auftrat.
Nach den ersten gemeinsamen Titeln mit Donkey Kong - in "Donkey Kong Jr" tritt Mario sogar als Widersacher des Spielers auf - trennen sich die Wege der beiden Videospielikonen und treffen später nur gelegentlich beispielsweise in "Super Mario Kart" oder "Super Smash Bros" aufeinander. Dem klassischen Jump-And-Run-Genre bleibt Mario weiterhin treu und trifft in Super Mario Bros auf dem NES zum ersten Mal auf seinen seitdem treuen Nemesis Bowser und gleichzeit auf dessen liebstes Entführungsopfer Prinzessin Peach. 1996 auf dem Nintendo 64 stößt der einst 16 Quadratpixel große Mario schließlich in die "unbekannte" dritte Dimension vor, wirkt freilich im Vergleich zu seinem aktuellen GameCube-Auftritt noch reichlich kantig.
Analysiert man, wie die Motivation des Spielers in "Super Mario Sunshine" funktioniert, fällt ein Widerspruch auf. Die Bewegungsfreiheit Marios auf der Mikroebene ist so groß wie nie zuvor: Er kann mit Hilfe seiner auf den Rücken geschnallten Wasserkanone umherschweben oder - die entsprechende Düse vorausgesetzt - sich wie eine Rakete in die Luft schießen. Mario kann auf Tintenfischen surfen, Berghänge hinabrutschen und endlich wieder auf dem Dinosaurier Yoshi durch die Gegend hüpfen. Doch im Gegensatz dazu ist die Freiheit des Spielers auf höheren Ebenen eingeschränkter. Manchmal bleibt nicht mal Zeit zum Betrachten der Umwelt, weil ein Zeitlimit den Spieler motiviert und durchs Level hetzt. Vor allem aber ist anders als bei früheren Titeln die Reihenfolge, in der man die Regionen der Spielwelt erlebt, relativ festgelegt.
Um weiterzukommen, muss man - wie prinzipiell in fast jedem Jump-and-Run - Dinge sammeln. Für 100 Goldmünzen gibt es ein Sonneninsignium. Und mit jedem dieser Insignien kommt man ein wenig weiter im Spiel. Um alle 120 Sonneninsignien einzusammeln, sollen geübte Spieler etwa doppelt so lange wie die Spielzeit für den reinen Handlungsfaden brauchen - also etwa 50 Stunden.
So wie Marios Freizeit im Spiel schweißtreibende Arbeit ist, so folgt auch der Spieler in seiner Freizeit den Gesetzen der Arbeitswelt: Mehr ist besser - und am besten ist, wenn es in so kurzer Zeit wie möglich akkumuliert wird. Dass viele, wenn nicht alle Lebensbereiche Marktgesetzen unterworfen sind, ist keine neue Feststellung. Michel Houellebecq hat sie für die Sexualität formuliert, der Wirtschaftswissenschaftler Edward Castronova für die als Karriere gestaltete Freizeit in Onlinerollenspielen wie Everquest: "Was die Leute dort machen, kann man als Arbeit bezeichnen. Für Ökonomen gilt alles als Arbeit, was ein Mensch tut, um einen Gewinn zu erzielen. Es gibt in Everquest einen Markt für Dienstleistungen. Die werden unterschiedlich bezahlt. Wenn der Job langweilig ist, ist er besser bezahlt. Das ist normal. Auf allen Märkten der Welt sieht man solche Unterschiede."
Dass Mario seinen Urlaub - und mit ihm wir unsere Freizeit - hüpfend, rennend, schwimmend und schwitzend auf der Jagd nach Goldmünzen und mehr Spielraum verbringt, ist kein Zufall. "Super Mario Sunshine" ist nicht nur eine Wegmarke für innovatives Spieldesign. Sein Held Mario ist zugleich der Prototyp des neuen Menschen: Er organisiert seine Freizeit nach den Gesetzen der Arbeitswelt, gerade weil Erwerbsarbeit fehlt - denn außerhalb der Arbeit gibt es keinen Sinn, kein Selbst. Was wäre schon ein Mario, der nicht springt, rennt und stampft? Trotzdem oder gerade deshalb ist "Super Mario Sunshine" ein sonnigwarmer Nachmittag am Meer, mitten im feuchtkalten Herbst.