Zwei Entlassungen, eine Verlobung und kein Maßanzug
Seite 5: Gerechtigkeit mit Widerhaken
- Zwei Entlassungen, eine Verlobung und kein Maßanzug
- Liebe auf einem sehr kulturellen Niveau
- 200 Pengő
- Rote Nelke
- Gerechtigkeit mit Widerhaken
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Vor dem Regal mit den Geschenkartikeln verfolgt Pirovitch, der sich bisher wegduckte, wenn es laut wurde, mit sichtlicher Genugtuung die Konfrontation. Vadas will es "schwarz auf weiß" haben, dass Kralik der Geschäftsführer ist und ihn feuern kann. Kralik wird stattdessen handgreiflich, was kein Wunder ist. In Schwarz und Weiß kriegt man bei Lubitsch gar nichts. Ein paar Filmminuten später wird Alfred die kranke Klara besuchen und ihr sagen, dass er sich in seiner neuen Rolle als Geschäftsführer wie der Vater einer Familie fühlt. Aber jetzt stößt er Vadas zu Boden wie ein Schläger auf dem Schulhof. Dabei fällt der Turm mit den aufgestapelten Zigarettenboxen um. Lubitsch führt auf diese Weise mehrere Erzählstränge zusammen.
Klara wird von Matuschek eingestellt, weil sie eine von den Boxen verkaufen kann, die fortan als unverkäuflicher Ladenhüter von hier nach da geräumt werden. 24 Stück davon stehen herum, weil die Handlung dieses so sehr mit Zahlen operierenden Films am 24. Dezember enden wird. Bei Klaras erstem Auftritt als Verkäuferin von Matuschek & Co. sind sie als Sonderangebot im Schaufenster zu sehen. Bei Kraliks Entlassung holt Pirovitch die Boxen aus dem Fenster, um sie im Verkaufsraum zu stapeln. Jetzt verliert Vadas seinen Job, und Kralik wirft ihn mitten hinein in den Turm mit den Zigarettenboxen. Vadas ist der Mann, mit dem die nie zu sehende Frau Matuschek ihren Gatten betrogen hat, weil sie sich nach 22 Ehejahren noch einmal jung und begehrenswert fühlen wollte, statt mit Herrn Matuschek gemeinsam alt zu werden. Somit wird das Liebesunglück des Chefs, das im Hintergrund stets präsent ist, während sich die holprige Romanze zwischen Alfred und Klara auf den Traualtar zubewegt, zur Warnung für den Geschäftsführer (oder, falls Lubitsch doch ein Zyniker gewesen sein sollte, zum Ausblick in die Zukunft).
Aus dem gemeinschaftlichen Betreten des Ladens ist eine chaotische Situation geworden, in der einer von der Gruppe aussortiert wird. Vadas steht vor der Ladentür und bringt seinen Anzug in Ordnung, während ihm die Ex-Kollegen den Rücken zukehren, eilig die Boxen aufsammeln und die Deckel schließen, damit die Dinger nicht mehr "Ochi tchornya" spielen. Das ist ganz anders als bei der Entlassung von Kralik und doch ähnlich bedrückend, wenn man erst angefangen hat, darüber nachzudenken. Nachdenken ist bei Lubitsch nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Das Umstürzen des Turms mit den Zigarettenboxen hat eine Vorgeschichte. Kralik fährt erst aus der Haut, als Vadas versucht, Klara Novak anzuschwärzen. Das wirkt edel und ritterlich. Ein Mann lässt nicht zu, dass ein Intrigant die Frau schlecht macht, die er liebt und erteilt ihm eine Lehre. Aber dann werden ungute Erinnerungen an den beliebig an- und wieder abstellbaren Wutanfall von Matuschek wach, den wir miterlebt haben. Auch Kraliks Zorn des Gerechten ist eine Inszenierung.
Für Vadas’ Entlassung ist alles vorbereitet. Er fordert sein ausstehendes Gehalt, und sofort überreicht ihm Flora (die Göttin der Blüte, aber nicht der roten Nelke) einen Umschlag mit dem bereits abgezählten Geld. Pepi Katona bringt den Mantel und lässt ihn auf den Boden fallen, bevor Vadas hineinschlüpfen kann. Das ist die kalkulierte Unverschämtheit eines berechnenden Emporkömmlings, der immer als erster weiß, woher der Wind weht. Vadas will ein Zeugnis. Kralik bescheinigt ihm, dass er als Angestellter bei Matuschek & Co. "als Spitzel, Unruhestifter und Ratte" sehr effizient gewesen sei. Dann jagt er ihn hinaus auf die Straße. Vadas kriegt, was er verdient. Keiner von den Kollegen weint ihm eine Träne nach. Trotzdem hinterlässt seine Entfernung aus dem Laden ein schales Gefühl. Lubitsch hat vorher noch einen Sprengsatz gelegt. Matuschek erzählt Kralik im Krankenhaus von einem anonymen Brief, in dem stand, dass seine Frau ein Verhältnis mit einem seiner Angestellten hat. Wir werden nie erfahren, wer den Brief geschrieben hat. Vadas dürfte es kaum gewesen sein. Flora vielleicht? Oder Ilona Novotny, die im ersten Akt gegen Frau Matuschek gestänkert hat? Wollte Pirovitch sich dafür rächen, dass der Chef ihn einmal zu oft als Idiot beschimpft hat? Ein geeigneter Kandidat wäre Pepi, der von Vadas’ Entlassung am meisten profitiert, weil er dessen Stelle als Verkäufer übernimmt. Man weiß es nicht genau.
Durchschnittsmenschen haben keine krummen Beine
Kommen wir zum Ende. Es ist Heiligabend, die Kunden haben den Laden gestürmt, jetzt ist geschlossen, der Chef und sein Personal haben sich um die Registrierkasse versammelt, und Flora verkündet das Ergebnis. Warum Flora? Weil sie die Göttin der erblühten Pengő ist. Das Ergebnis lautet: Neuntausendsechshundertvierundfünfigundfünfundsiebzig! Alle sind glücklich. Vor zwei Stunden, sagt Matuschek, war er ein kranker Mann. Jetzt haben ihn seine Angestellten wieder gesund gemacht. Dafür bedankt er sich mit Geld im Umschlag. Alle erhalten einen Bonus. Das Personal geht einzeln aus dem Laden. Matuschek sucht vergeblich Anschluss. Schließlich ist nur noch Rudy übrig, der neue Botenjunge, der es als Auszeichnung empfindet, von seinem Chef zu einem üppigen Weihnachtsmahl eingeladen zu werden. Irgendwann wird er verstehen, dass Matuschek Angst davor hatte, das Fest der Liebe ganz allein feiern zu müssen. Mit Rudy hat das nichts zu tun.
Alfred Kralik und Klara Novak bleiben im Laden zurück. Pirovitch ist ein wirklich guter Freund und hat Klara überzeugt, dass eine Brieftasche doch das geeignetere Geschenk ist. Jetzt fehlt noch der Mann, dem sie die Brieftasche überreichen kann. Inzwischen habe sie dazugelernt und sei nicht mehr so naiv wie früher, sagt sie. Gerade habe sie einen Roman über eine glamouröse französische Schauspielerin gelesen. Ihr sei klar geworden, dass der Unterschied zwischen ihr und der Französin darin bestehe, dass die Schauspielerin bei der Comédie-Française sei ("Das ist ein Theater in Frankreich") und sie bei Matuschek & Company. Weil Lubitsch ein Perfektionist war, bei dem jedes Detail stimmen musste, steht sie dabei vor der Reihe mit den Spinden, wo Alfred das vereinbarte Erkennungszeichen auf den Boden warf, die rote Nelke, nachdem ihn Matuschek gefeuert hatte. Und weil der Laden das zukünftige gemeinsame Leben des Liebespaares bestimmen wird, gehen die beiden nicht vom Aufenthaltsraum für das Personal in das Café Nizza, sondern in den Verkaufsraum von Matuschek & Co.
Nach dem Weihnachtsansturm sind die Regale mit dem Schnickschnack fast leergeräumt. Vor diesem Hintergrund zitiert Alfred aus einem von Klaras Briefen, in einer bearbeiteten Version wie beim Shakespeare-Gedicht für Frau Matuschek: "Liebste, ich ertrage das nicht länger. Bitte nimm Deinen Schlüssel und öffne Postfach 237 und hole mich aus meinem Umschlag und küss mich." Dann steckt er sich eine rote Nelke ins Knopfloch. Klara ist jetzt nicht nur klar, dass sie eine Verkäuferin ist, sondern auch, dass der Verkäufer ihr gegenüber ihr Brieffreund ist. Dabei darf das Geständnis nicht fehlen, dass Alfred eine der poetischsten Passagen in seinen Briefen von Victor Hugo geklaut hat. Erst müssen sich die beiden ihren Illusionen stellen, zwischen Tagträumen und der Wirklichkeit unterscheiden, dann können sie ein Paar werden. Psychologisch, sagt Klara, sei sie verwirrt (wie damals, als sie krank im Bett lag, weil der Brieffreund scheinbar nicht zum Rendezvous gekommen war), aber persönlich fühle sie sich überhaupt nicht schlecht. Um es sehr unromantisch zu formulieren: Die finanzielle Sicherheit, die ihr der Geschäftsführer von Matuschek & Co. bieten kann, ist ihr lieber als das Glücksversprechen in den Briefen eines Mannes, der eventuell kein Geld hat. Klingt gemein, ist aber nicht ganz falsch.
Nach den Weihnachtsfeiertagen werden Alfred und Klara als Verlobte zurück in den Laden kommen, und wenn sie brav sind werden sie keinen Sex vor der Ehe haben wie es die von katholischen Lobbygruppen geprägte Zensur verlangte. Darauf wetten würde ich nicht, weil das ein Film von Ernst Lubitsch ist. Alfred hat jetzt den Umschlag mit dem Bonus einstecken, mit dem er seine Brieffreundin im Gespräch mit Pirovitch verglichen hat. Wahrscheinlich verwahrt er ihn in der Brieftasche, die er bald durch eine neue ersetzen kann, weil Klara die schweinslederne, in Geschenkpapier verpackte Importware in der Hand hält, als Alfred ihr seine Liebe und seine Doppelidentität gesteht. Bevor er sie küssen darf muss er noch eine letzte Probe bestehen.
In der Firma ist das Gerücht im Umlauf, dass Alfred Kralik krumme Beine hat und maßgeschneiderte Hosen trägt, die das verbergen sollen. Der Urheber des Gerüchts ist natürlich Herr Vadas, weil alles, was irgendwie abseits der Norm ist, zu ihm in einer Verbindung steht. Klara will nicht die Katze im Sack kaufen. Also muss Alfred die Hosenbeine lüften, bevor sie seinen Antrag annimmt. Das ist ein ebenso komischer wie sinnlicher Moment. Mehr Nacktheit ging nicht in einem Hollywoodfilm von 1940. Der Rest ist deshalb unserer Phantasie überlassen. Ich persönlich bin mir - auch psychologisch - sicher, dass sich in der Weihnachtsnacht eine Gelegenheit finden wird, um zu erforschen, was sonst noch drin ist im Kuvert.
Triumph der Wahrhaftigkeit
The Shop Around the Corner bleibt ambivalent bis zur letzten Einstellung. Alfred und Klara fallen sich in die Arme und küssen sich. Wir dürfen uns darüber freuen, dass der "liebe Freund" nach der Überwindung aller Hindernisse die "liebe Freundin" kriegt wie der Prinz im Märchen die Prinzessin. Traurig ist das Happy Ending aber auch, denn als finale Prüfung - selbstverständlich ist es eine des Blicks, weil Lubitsch bei aller Brillanz der Dialoge ein eminent visueller Regisseur ist - muss Alfred beweisen, dass er Hosen von der Stange kauft, keine individuell geschneiderten Maßanzüge wie Vadas, den man doch irgendwie vermisst. Die Voraussetzung für den Kuss am Ende ist, dass das liebende Paar seine durch die Schöne Literatur genährten Phantasien vom edlen Ritter und vom anmutigen Burgfräulein Phantasien sein lässt und seine eigene Gewöhnlichkeit akzeptiert. Der Geschäftsführer Alfred Kralik wird nur noch gestreifte Krawatten tragen und seine Gattin Klara nie mehr eine grüne Bluse mit gelben Punkten. Auch keine gelbe Bluse mit grünen Punkten.
Das ist sehr schade. Alles andere jedoch hätte Lubitsch als Unwahrheit empfunden, und als Verhöhnung des Publikums. Er singt nicht das Hohelied auf den Durchschnitt und das Spießertum. Die Traurigkeit, die das finale Liebesglück durchweht, zelebriert in einem dunklen Laden, in dem jemand das Licht ausgemacht hat, darf man als Aufforderung verstehen, nach Höherem zu Streben und das Extraordinäre zu versuchen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Warum nicht sogar dem extravaganten Herrn Vadas eine zweite Chance geben und zeigen, dass man die rote Nelke der Solidarität zurecht im Knopfloch trägt? Nur glaubwürdig muss es sein, und es darf nicht mit einer Lüge enden.
James Stewart wurde damals mit seiner Rolle in Frank Capras Mr. Smith Goes to Washington identifiziert. Als Jefferson Smith sahen die Amerikaner sich am liebsten. Der Film erzählte den hausgemachten Mythos vom "kleinen Mann", der über sich hinauswächst und die Welt, in der er lebt, verändern kann, wenn er es nur will. Das kam hervorragend an, weil so getan wurde, als könne man komplexe Probleme lösen, indem man den "kleinen Leuten" eine Stimme gibt, um mit "denen da oben" abzurechnen: mit korrupten Politikern, einer nicht weniger korrupten Presse und ein paar skrupellosen Geschäftemachern. Lubitsch bleibt solchen aus der Vereinfachung geborenen Machtphantasien gegenüber skeptisch, hält die Balance zwischen einer spürbaren Sympathie mit dem Liebespaar und einer kritischen Distanz zu seinen Helden. Konfrontiert mit Capras Populismus war er bemüht, die Dinge zurechtzurücken. Jeder Triumph des Willens, auch in der amerikanischen Variante, erfüllte ihn mit Unbehagen.
The Shop Around the Corner ist das beste Vorbeugemittel gegen Volkstribunen, Erlöserfiguren aller Art und auch gegen den alljährlich wiederkehrenden Weihnachtskitsch. Lubitsch steckte im Karrieretief und brauchte dringend einen Erfolg, als er den Film drehte. Umso entschlossener weigerte er sich, kunstlederne, mit Pralinen, Zigaretten oder sonstigen Genussmitteln zu füllende Schachteln zu verkaufen, die zum x-ten Mal "Ochi tchornya" spielen, wenn man den Deckel hebt und schaut, was drin ist. Nicht einmal Klara, die Freundin von falscher Zigeunermusik, will am Schluss noch eine von den Romantikkisten kaufen. Matuschek bleibt trotz Sonderpreis auf den Ladenhütern sitzen. Besser, man besorgt sich die DVD über sein Geschäft und über die Leute, die da arbeiten. Einen so menschlichen, ehrlichen und unsentimentalen Weihnachtsfilm wie diesen gab es selten.
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