Zwei Entlassungen, eine Verlobung und kein Maßanzug
- Zwei Entlassungen, eine Verlobung und kein Maßanzug
- Liebe auf einem sehr kulturellen Niveau
- 200 Pengő
- Rote Nelke
- Gerechtigkeit mit Widerhaken
- Auf einer Seite lesen
Weihnachten mit Matuschek und Company, Teil 2
Teil 1: Weihnachten mit Matuschek und Company
In Lubitschs sophisticated comedies der 1930er gibt es mehr oder weniger exzentrische Charaktere, deren persönliche Spleens mit dem Gesellschaftssystem kollidieren. In The Shop Around the Corner definiert das System die Persönlichkeit. Die Figuren haben es so sehr verinnerlicht, dass ein Ausbrechen aus dem Korsett extrem schwierig wird und in den Bereich der Phantasie verlagert werden muss. Unter der heiteren Oberfläche der Komödie lauert eine Düsternis, die immer dann nach oben drängt, wenn das Geld zum Thema wird. Pauline Kael, deren Meinung nach The Shop Around the Corner ein "luftiges Wunderwerk" war und der Perfektion so nahe kam, wie es "einem von Sterblichen gemachten Film wahrscheinlich je gelingen kann", hat es so formuliert: "Das köstliche Gezanke in den Dialogszenen zwischen Margaret Sullavan und James Stewart hat ein stählernes Fundament." Stahlstreben kommen auch zum Vorschein, wenn man an der Fassade von Hugo Matuscheks auf den ersten Blick so heimelig wirkendem Laden kratzt.
Vor der Ladenöffnung
Die Geschichte beginnt an einem durchschnittlichen Morgen, kurz vor Öffnung der Geschäfte. Weil Lubitsch einen radikalen Perspektivwechsel vollzogen hat zeigt er uns nicht die Frackträger aus seinen Oberschichtkomödien, die nach durchzechter Nacht heimwärts wanken, sondern Leute, die um die Zeit zur Arbeit müssen. Pepi, der Botenjunge von Matuschek & Co., radelt auf dem Transportfahrrad der Firma zum noch vergitterten Laden, vor dem bereits Herr Pirovitch wartet. Weil dieser Morgen wie jeder Morgen ist berichtet Pepi, dass er am Tag davor erst Kunden beliefern und dann Besorgungen für Frau Matuschek machen musste. Frau Matuschek gibt das Geld, das ihr Gatte einnimmt, gleich wieder aus. Die Dame werden wir nie sehen. Nicht einmal ihre Stimme werden wir hören. Und doch ist sie stets präsent. Das ist Lubitschs sanfte Erinnerung daran, dass die im Luxus lebenden Müßiggänger nicht dadurch aus der Welt verschwunden sind, dass er sich dafür entschieden hat, einen Film über die arbeitende Bevölkerung zu drehen.
Lubitsch nimmt sich am Anfang etwas Zeit, um uns mit dem Personal von Matuschek & Co. bekannt zu machen. Er liebte die Nebenfiguren, die bei ihm sorgfältig gezeichnete Charaktere sind, keine Staffage im Hintergrund. Dieser Respekt gegenüber dem Ensemble trägt zu der dichten Textur bei, die seine Filme so unverwechselbar macht. Das Personal könnte als Gruppe vor dem Laden auf den Chef warten und dann hineingehen. Das hätte Kameraeinstellungen und Geld gespart. Lubitsch entscheidet sich dafür, die Ankunft der einzelnen Charaktere zu zeigen (nur Herr Pirovitch ist schon da, weil er immer der Erste ist). Dadurch sind sie in Bewegung, und wir erhalten sofort eine wesentliche Information über ihr Verhältnis zu diesem Laden, von dem ihr Wohl und Wehe abhängt und der sie anzieht wie ein Magnet, weil er der Mittelpunkt ihres Daseins ist.
Bei Lubitsch setzt sich die Gruppe aus einem halben Dutzend Persönlichkeiten zusammen. Über einige von ihnen werden wir im nun beginnenden Film mehr erfahren als über andere, aber bevor die Geschichte losgeht wird uns eine Vorstellung davon vermittelt, mit wem wir es zu tun haben. Den kürzesten Auftritt hat Alfred Kralik, der plötzlich im Bild erscheint, während für die anderen ein ihnen folgender Kameraschwenk reserviert ist, von der Straße hin zum Laden und den Kollegen. Das ist doppelt überraschend, weil der Darsteller von Kralik James Stewart ist, und Stewart ist der Star des Films. Margaret Sullavan sehen wir zunächst gar nicht, weil Matuschek Klara Novak erst noch einstellen muss. Das Zusammenspiel von Sullavan und Stewart in diesem Film ist große Klasse, und Lubitsch gelingt das Kunststück, die beiden ebenso perfekt in das Ensemble zu integrieren. Darum muss Margaret Sullavan noch warten.
Das ist programmatisch. Den Stars gehören die Hauptrollen, aber ihr Star-Status dominiert nicht den Film, was wiederum die Botschaft transportiert. Sullavan und Stewart spielen zwei junge Leute mit hohen Erwartungen, die lernen müssen, ihren Platz im sozialen Gefüge zu akzeptieren, und da sind sie weniger die Häuptlinge als vielmehr die Indianer, gehören sie nicht zur kleinen Zahl der Stars, sondern eher zum Heer der Nebendarsteller. Ihre Zukunft ist das Gewöhnliche, nicht das Extraordinäre. Was Lubitsch unternimmt, um daraus keine Ode an das Spießertum zu machen (ich denke da an gruselige Heinz-Rühmann-Komödien wie Ein Mann geht durch die Wand), dazu später mehr.
Nach Pirovitch und Pepi trifft Fräulein Kaczek vor dem Laden ein und erkundigt sich nach Herrn Pirovitchs krankem Sohn. Dem Jungen geht es besser, aber Pirovitch muss sich in den nächsten Wochen mit seinen Zigarren einschränken, weil er einen teuren Arzt geholt hat. Pirovitch hat Frau und zwei Kinder und die größten finanziellen Belastungen zu tragen. Dadurch wird er zum Experten dafür, was man sich mit einem Verkäufergehalt leisten kann und was nicht. Lubitsch verhandelt das Thema gern auf dem Bürgersteig vor dem Laden, weil das der Raum zwischen dem Privat- und dem Erwerbsleben ist und es eine Illusion wäre zu glauben, dass man das eine vom anderen trennen kann, wenn man gerade genug Geld für den täglichen Bedarf hat. So wird etwa Kralik den Familienvater Pirovitch bei einem ihrer vertraulichen Gespräche fragen, mit welchen Kosten zu rechnen ist, wenn er seine Brieffreundin heiratet. Das sei machbar, sagt Pirovitch, aber das von Kralik gewünschte Zimmer, in dem man Freunde empfangen kann, sei nicht drin.
Lubitsch versteht es bestens, die romantische Ausgangssituation (ein Mann und eine Frau, beide auf der Suche nach einem Partner, tauschen brieflich poetische Gedanken über die schönen Dinge des Lebens aus) mit solchen Szenen zu konterkarieren. Kralik ist so sehr das Opfer seiner Phantasien geworden, dass er die Ehe mit einer Frau plant, die er (wissentlich) noch nie gesehen oder gesprochen hat. Gleichzeitig ist er so völlig unromantisch, dass ihn die finanziellen Folgen der Eheschließung mehr interessieren als die real existierende junge Dame, mit der er vor den Traualtar treten würde. Für zusätzliche Erdung sorgen die witzig-lakonischen Dialoge, die Felix Bressart als Pirovitch zu sprechen hat. "Wozu müssen Sie Freunde empfangen?", kommentiert er Kraliks imaginäre Platzprobleme in der erst noch zu mietenden Wohnung, die dieser mit einer Frau teilen will, die er nicht kennt. "Sind Sie ein Botschafter?" Und außerdem: "Echte Freunde kommen erst nach dem Essen." Da muss man ihnen nichts anbieten und kann sie auch in der Küche empfangen.
Magenverstimmung
Fräulein Novotny erscheint mit einer neuen Fuchsstola vor dem Laden. Sicher nicht billig, meint Pirovitch. Ilona räumt ein, dass sie sich so etwas eigentlich nicht leisten kann, aber … und dann fällt ihr der freche Pepi ins Wort und spricht von einem Liebhaber, der ihr die Stola schließlich gekauft habe, was Fräulein Novotny sehr erbost. Die Verbindung von Geld und Liebe wird noch wichtig werden in diesem Film, der nun den Anti-Star-Auftritt von James Stewart als Alfred Kralik folgen lässt. Kralik sieht angeschlagen aus und schickt Pepi zur Apotheke, um ein Magenmittel zu holen. Als Kontrast dazu kommt der Stutzer Vadas herangeschritten. Er ist bestens gelaunt und prahlt mit der tollen letzten Nacht, in der er kaum geschlafen habe. Fräulein Novotny quittiert das mit der Bemerkung, dass niemand von den Arbeitskollegen den Namen des "armen Mädchens" wissen wolle. Bald wird sich die Frage stellen, wie alt das "Mädchen" ist.
Viel spannender finden Ilona und Kollegen, wie der Abend war, den Kralik bei den Matuscheks verbracht hat. Sehr schön, sagt er. Nur die Gänseleber, die als einer von sieben Gängen gereicht wurde, liegt ihm schwer im Magen. "Was ist los?", fragt Vadas. "War sie nicht gut?" Damit wissen wir, warum sich alle demonstrativ abgewendet haben, als er bei seiner Ankunft einen Witz erzählen wollte. Vadas ist einer, der darauf wartet, Sachen aufzuschnappen, die er verdrehen und dem Chef berichten kann, um sich bei diesem einzuschmeicheln, zum Nachteil der Kollegen. Die anderen geraten dadurch so sehr unter Druck, dass sich sofort ein heftiger Disput darüber entspinnt, ob Kralik abfällige Bemerkungen über die Gänseleber gemacht habe oder nicht.
Dann fährt der Mann im Taxi vor, der so reich ist, dass er sich ein Sieben-Gänge-Menü leisten kann ("Die Hors d’œuvre nicht eingerechnet", sagt Kralik), während Pirovitch, sein Angestellter, an seinen billigen Zigarren sparen muss, wenn sein krankes Kind von einem Arzt behandelt werden soll. Ein Agitprop-Regisseur wie Eisenstein hätte hier Bilder von einem abgemagerten kleinen Jungen und einem Tisch einmontiert, der sich unter dem Gewicht der edlen Speisen biegt. Lubitsch ist viel diskreter. Er steckt die nötigen Informationen in die Dialoge und überlässt es uns, die Schlüsse daraus zu ziehen. Herrn Matuschek spielt Frank Morgan, den das damalige Kinopublikum ein paar Monate davor als den Zauberer von Oz gesehen hatte. Morgan war auf gutherzige, immer leicht verdatterte und darum komische Herren spezialisiert. Lubitsch, der Virtuose des Kontrapunkts, lässt ihn mit seiner freundlichen Märchenonkelstimme eisenharte Chef-Sätze sprechen. Einmal beklagt sich Kralik über die unfaire Behandlung. "Ich tue meine Arbeit …", sagt er, und Matuschek erwidert: "Und Sie werden dafür bezahlt." "Jawohl", antwortet Kralik. "Jeden Monat?" "Jawohl." "Dann scheint doch alles in Ordnung zu sein, nicht wahr?", meint Matuschek, und das Gespräch ist beendet.
Im Trailer gibt Morgan den freundlichen älteren Herrn, der uns den Laden vorstellt, die Leute, die dort arbeiten und den Regisseur Ernst Lubitsch, der The Shop Around the Corner inszeniert hat. Bei seinem ersten Auftritt im Film wirkt er gar nicht jovial. Als er den Laden aufsperren will (einen Schlüssel hat nur der Chef) fällt sein Blick auf die Auslage. Seine Angestellten stehen gespannt mit dabei, halten den Atem an. "Wer hat diesen 32,50-Koffer ins Fenster gestellt?", fragt er (die Synchronfassung macht daraus einen "großen Koffer", obwohl die Gesellschaft, die Lubitsch uns da präsentiert, dadurch charakterisiert ist, dass man dauernd den Preis für etwas nennt). "Das war ich, Herr Matuschek", gesteht ein verängstigter Herr Pirovitch. "Ich denke, das ist in Ordnung so", sagt Matuschek. Pirovitch fällt ein Stein vom Herzen. Dankbar zieht er vor seinem Chef den Hut.
So viel Unterwürfigkeit ist beim Zuschauen fast schmerzhaft. Schmerzen hat auch Matuschek, dem die Gänseleber so schwer im Magen liegt wie Kralik und der Pepi nun ebenfalls zur Apotheke schickt. Das ist die für Lubitsch-Filme typische Ambivalenz. Matuschek wird als Diktator eingeführt, der bei seinen Angestellten Angst verbreitet (diese Schaufenstersequenz ist nichts anderes als Psychoterror) und ihnen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes droht, wenn ihr Verhalten den Profit von Matuschek & Co. schmälern könnte: wenn sie um eine Gehaltserhöhung bitten oder pünktlich nach Hause gehen wollen, obwohl der Chef aus einer Laune heraus Überstunden angeordnet hat. Wer eine nette Liebeskomödie erwartet und so etwas nicht zur Kenntnis nehmen will, dem bietet Lubitsch, der Mann mit der dicken Zigarre und dem sardonischen Grinsen, freundlicherweise einen Ausweg an: Matuscheks Magenverstimmung ist auf seine Laune durchgeschlagen, nur darum drangsaliert er sein Personal.
Wie gern dieser Notausgang genommen wird ist an den vielen Kommentaren im Netz abzulesen, bei deren Lektüre man glauben könnte, dass der Film eine irgendwie putzige und heimelige Erwerbswelt zeigt, mit einem Chef, der fürsorglich wie ein Familienvater über seine Angestellten wacht. Man muss dann aber ausblenden, wie ängstlich das Personal bei Matuscheks Ankunft vor dem Laden ist, wie diese Menschen erschrecken und in Habachtstellung erstarren, wenn der Chef die Stimme erhebt. Die Matuscheks sind kinderlos. Der einzige Familienvater im Film ist Herr Pirovitch. Einmal nimmt er all seinen Mut zusammen, um sich für Kralik zu verwenden, den der despotische Chef soeben ohne Angabe von Gründen gefeuert hat. "Sie wollen doch Ihren Job behalten, oder nicht?", fragt Matuschek. "Ja, Herr Matuschek", antwortet Pirovitch. "Ich habe Familie, zwei Kinder." "Dann kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten", erwidert Matuschek. "Gehen Sie nach Hause." "Jawohl, Herr Matuschek", sagt Pirovitch und geht.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.