Weihnachten mit Matuschek und Company

The Shop Around the Corner

The Shop Around the Corner von Ernst Lubitsch

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Ernst Lubitsch drehte Ende 1939 eine romantische Liebeskomödie mit einem Plot, der denkbar einfach ist: Ein Mann und eine Frau schicken sich anonyme Liebesbriefe voll Poesie und wissen nicht, dass sie Arbeitskollegen sind, die sich dauernd zanken. Der Film wirkt so federleicht, dass man ihn für eine Seifenblase halten könnte, mit der uns der Regisseur in schwerer Zeit (Hitler hatte im September Polen überfallen) in eine Welt der Nostalgie und des Eskapismus entschweben lässt. Dabei heben wir nie vom Boden ab, und an der nächsten Ecke lauert die Tragödie. The Shop Around the Corner ist ein wunderbar unsentimentaler Weihnachtsfilm mit Suizidversuch, Liebesleid und Registrierkasse. Ein Meisterwerk.

Laden mit Wendeltreppe

Fangen wir mit etwas an, das Lubitsch bis dahin gern vermieden hatte: einem establishing shot, also einer Totale, die uns den Ort des Geschehens zeigt, den Verkaufsraum von Matuschek & Co., einem Geschäft für Lederwaren und Geschenkartikel in Budapest, nicht in der Andrássy-Straße, wie wir im Vorspann erfahren haben, sondern gleich um die Ecke, in der Balta-Straße. Die Andrássy-Straße, heute Weltkulturerbe der UNESCO, hieß im Kalten Krieg Stalin-Straße, dann auch Straße der Volksrepublik, und ist der berühmteste Boulevard in Ungarns Hauptstadt. In diese Premiumlage hat es Herr Matuschek mit seinem Laden nicht ganz geschafft, aber doch immerhin in eine Nebenstraße um die Ecke, wo er Sachen verkauft, die nicht ganz so hochwertig sind wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, und dies an Kunden, die mehr sein wollen als sie sind.

Es ist früher Morgen. Der Laden hat soeben geöffnet, das Personal ist mit Abstauben beschäftigt und wartet auf die ersten Käufer. Den rechten Bildrand begrenzt eine Wendeltreppe, die den Laden mit dem Magazin im ersten Stock verbindet. Dieses Magazin werden wir nie sehen, weil der Film beständig in der Horizontalen bleibt, obwohl Matuscheks Geschäft der Mikrokosmos einer streng hierarchisch organisierten Gesellschaft ist. Das ist ein schönes Beispiel für den schwer zu definierenden, von jedem anders verstandenen "Lubitsch Touch": die Fähigkeit, Form und Inhalt durch die Inszenierung in ein Spannungsverhältnis zu versetzen und auf diese Weise die Ideologie zu hinterfragen, die Hollywood mit seinen Liebesgeschichten transportiert. Weil dies aber mit den Mitteln der Ironie geschieht und die Helden keine Monologe über Korruption und amerikanische Werte halten wie bei Frank Capra, gilt Lubitsch als Schöpfer romantischer, mal frivoler und mal kitschiger Komödien, die ihrer Natur nach unpolitisch sind. Das ist ein Missverständnis.

Herr Pirovitch, einer von Matuscheks Angestellten, trägt einen Stapel Schachteln nach unten in den Laden und geht damit in einen Lagerraum im Parterre. Die Schachteln sind vermutlich so leer wie das - nicht benötigte und darum als Studiokulisse nie gebaute - Magazin imaginär ist. Pirovitchs Gang zum Lagerraum hat keine narrative Funktion. Der Lubitsch, den man bis dahin kannte, hätte ihn weggelassen. Hier hat er ihn abgefilmt, weil er uns Orientierung geben will. Darum auch der für ihn untypische establishing shot. Der deutsche Verleihtitel, Rendezvous nach Ladenschluss, ist irreführend. Der Originaltitel trifft es besser. Lubitsch stellt uns den Verkaufsraum vor, das Lager, das Büro des Chefs und zeigt uns, in welchem räumlichen Verhältnis sie zueinander stehen, weil dieser Laden der eigentliche Protagonist ist. Er ließ genau recherchieren, wie so ein Laden im damaligen Budapest aussah, welche Produkte es dort gab und wie sie dargeboten wurden. Lubitsch ging es um mehr als um die Ausstattung des Hintergrunds. Sogar das besagte Rendezvous in einem Café wird erst in den Räumen von Matuschek & Co. zum ersehnten Happy Ending führen.

"Nie habe ich einen Film gedreht, in welchem die Atmosphäre und die Charaktere echter waren als in diesem", schrieb Lubitsch 1947 in einem Brief an Herman G. Weinberg (Autor von The Lubitsch Touch). Innerhalb eines sorgfältig etablierten Handlungsraumes wechseln sich statische Einstellungen mit einer beweglichen, die Grenzen austestenden Kamera ab. Für die Menschen, die hier ihr Geld verdienen, ist der Laden sowohl schützendes Gehäuse wie Gefängnis. Die ersten Handlungen des Chefs sind symptomatisch. Kritisch mustert er das Schaufenster, dann schiebt er das Gitter vor der Ladentür hoch, seine Angestellten folgen ihm hinein. Matuschek wird bestimmen, wann sie wieder gehen dürfen. Ladenschluss heißt noch nicht Freizeit. Das Rendezvous des deutschen Titels gestaltet sich ganz anders als vom Liebespaar erhofft, weil umdekoriert werden muss, um das Weihnachtsgeschäft zu starten. Der Film erzählt keine Liebesgeschichte, er widmet sich dem Konflikt zwischen Emotion und Ökonomie. Lubitsch lenkt den Blick auf die Schattenlinie zwischen Gefühl und Geld. Die Wendeltreppe signalisiert, wie schnell man abstürzen kann.

Shakespeare reimt sich auf Matuschek

In einer Warenwelt, die darauf angelegt ist, gesehen zu werden, wird das Lager zum Rückzugsraum. Herr Pirovitch also, der permanent auf dem Rückzug ist, geht mit seinen Schachteln über die Wendeltreppe in den Laden und von da in dieses Lager, wo er die Tür hinter sich schließt und James Stewart trifft. Stewart spielt Alfred Kralik, seit neun Jahren bei Matuschek & Co. angestellt und in der Zeit zum ersten Verkäufer aufgestiegen. "Von ihr", sagt Kralik, und: "Want to hear something nice?" Klar, sagt Pirovitch. Kralik hat den Brief einer jungen Frau erhalten. Jimmy Stewart setzt dazu seinen schelmisch-verschwörerischen Jungenblick auf als wären wir auf dem Pausenhof oder im Umkleideraum der Turnhalle, wo sich die pubertierenden Jünglinge Pin-up-Photos schöner Frauen zeigen. Wir sind jetzt aber im Lager von Matuschek & Co., und es geht um das Hören, nicht um das Sehen. Nein, um das Sehen auch. "Matuschek", "Matuschek", "Matuschek" steht auf den Schachteln, die zwischen den beiden Angestellten von Hugo Matuschek aufgetürmt sind wie die Steine einer Mauer.

Das Schöne, das Kralik versprochen hat und nun vorliest, beginnt wie folgt: "Mein Herz bebte, als ich in das Postamt ging. Und da warst Du, lagst Du im Postfach 237. Ich nahm Dich aus Deinem Umschlag und las Dich, las Dich gleich dort. Oh mein lieber Freund." Wenn das nicht poetisch ist! Und sexuell aufgeladen ist es natürlich auch. Lubitsch, unterstützt von seinem kongenialen, in der Kunst der eindeutigen Zweideutigkeit bestens geschulten Drehbuchautor Samson Raphaelson, erweist sich einmal mehr als Meister der frivolen Suggestion. Man muss nur in Gedanken das Verb "lesen" durch "nehmen" ersetzen, schon ist man mitten in einem Szenario, in dem die Frau ihrem "lieben Freund" die Kleider vom Leib reißt (den Brief aus dem Umschlag nimmt) und ihre Lust an ihm befriedigt, gleich hier und auf der Stelle - nicht unbedingt in einem Postamt, aber vielleicht in dem Café, in dem sich die Liebenden kurz vor Weihnachten verabreden werden. Lubitsch hatte wie außer ihm nur wenige in Hollywood verstanden, dass sich die wildesten (sexuellen) Abenteuer in den Köpfen des entsprechend stimulierten Publikums abspielen, wofür man keine auf die Leinwand projizierten Bilder von nackten Körpern braucht.

Auffallend ist die extravagante Art-deco-Krawatte, die Kralik zu seinem langweiligen Verkäuferanzug trägt. Denn die Rede ist hier - scheinbar - nicht von wildem Sex in der Öffentlichkeit (wie wäre es mit der Gepäckaufbewahrungsstelle am Bahnhof, angesichts der Koffer im Regal, vor denen Kralik den Brief vorliest?), sondern von der Sphäre des Schöngeistigen und der Kultur (so wie man sich in heutigen Museumsshops eine Kaffeetasse mit Van-Gogh-Gemälde kaufen kann). Kralik berichtet jetzt seinem Kollegen Pirovitch, wie er zu einer Brieffreundin kam: Statt seine Freizeit in Cafés und Tanzlokalen zu verbringen wollte er sich fortbilden, etwas über Kunst und Literatur und Geschichte erfahren und zu diesem Zweck eine Enzyklopädie erwerben. Auch die Kultur, heißt das, wird auf ihren Warenwert reduziert - nicht vom Film, sondern von seinen Charakteren, die in einer Gesellschaft leben, in denen die Ökonomie alle Bereiche des Lebens durchdringt.

Am Abend vor dem Männergespräch im Lagerraum war Kralik bei Matuscheks zum Essen eingeladen. Frau Matuschek, auf deren Urteil Herr Matuschek sehr viel Wert legt, hat er bei dieser Gelegenheit mit einem von Shakespeare geklauten Gedicht beeindruckt, das er so bearbeitet hat, dass es sich auf "Matuschek" reimt (leider kommt es nie zum Vortrag). Die Literatur wird so verdinglicht und Mittel zum Zweck. Das umgebaute Gedicht sollte Kralik dabei helfen, die nächste Sprosse der Karriereleiter zu erreichen. Kralik will Geschäftsführer werden und hofft auf Frau Matuschek als Fürsprecherin. Aus Einfällen wie diesen bezieht der Film einen Teil seines Witzes. Es wäre leicht gewesen, sie zu nutzen und sich auf Kosten der Figuren über diese lustig zu machen. Lubitsch ist das zu billig. Es ist eine seiner großen Stärken, dass er seine Charaktere nicht denunziert, sondern sie als Produkte einer auf materiellen Werten gegründeten Gesellschaft zeigt und diese dadurch kritisiert. Lubitsch war nicht halb so zynisch und unpolitisch, wie oft unterstellt.

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