Zwei Gesundheitsreformen und eine Halbzeitwahl
Die im Repräsentantenhaus und im Senat verabschiedeten Entwürfe sollen auf informellem Wege vereinheitlicht werden
Eine stärkere Regulierung des amerikanischen Gesundheitssystems wird unter anderem deshalb von vielen Beobachtern als überfällig angesehen, weil sich die USA in diesem Bereich seit etwa drei Jahrzehnten dem Stand eines Entwicklungslandes annähern: Dies zeigt sich nicht nur daran, dass die eigentlich für Einsätze in der Dritten Welt vorgesehene Hilfsorganisation Remote Area Medical mittlerweile 60 Prozent ihrer karitativen Arbeit im Heimatland ihrer Gründer leistet: In der letzten WHO-Statistik landeten die USA bei der Lebenserwartung nur noch auf Platz 27, bei der Effizienz ihres Gesundheitssystems sogar nur auf Platz 72. Wer dort 2004 einen Infarkt hatte, der wartete durchschnittlich 20 Minuten auf Hilfe. Sieben Jahre früher lag diese Wartezeit noch bei 8 Minuten.
Die Harvard Medical School ermittelte gemeinsam mit der University of Washington School of Medicine, dass jedes Jahr ungefähr 45.000 Amerikaner allein deshalb sterben, weil sie nicht krankenversichert sind. Anders formuliert müssten Islamisten jährlich knapp 15 Terroranschläge vom Ausmaß des 11. September 2001 durchführen, damit sie so viele Menschenleben vernichten wie das derzeitige US-Gesundheitssystem. Zu den 45,7 Millionen Amerikanern ohne Krankenversicherung kommen Schätzungen zufolge noch einmal genauso viele grob unterversicherte. Und weil private Krankenversicherungen auch beim Rest extrem hohe Zuzahlungen verlangen oder Leistungen erst nach teuren Prozessen erstatten, stieg der krankheitskostenbedingte Ursachenanteil an Privatinsolvenzen zwischen 2001 und 2007 von 46,2 auf 62,1 Prozent.
Obwohl es unter den Nichtversicherten auch religiöse Fanatiker gibt, hat der weitaus größte Teil dieser Bevölkerungsgruppe schlichtweg nicht genug Geld, um die extrem teuren privaten Prämien bezahlen zu können. So kostet etwa eine Familienversicherung typischerweise zwischen 12.000 und 13.000 Dollar im Jahr - für völlig Gesunde. Waren der Versicherte oder eines seiner Familienmitglieder schon einmal schwerer krank, dann liegen die Beiträge erheblich höher - sofern solche Personen überhaupt von einer Versicherung angenommen werden, was bisher nur die Bundesstaaten New York, New Jersey, Maine, Massachusetts und Vermont gesetzlich erzwingen.
Unter den jungen Erwachsenen sind fast 30 Prozent unversichert, was zum Teil daher rührt, dass immer weniger Unternehmen die zur Blütezeit des Fordismus durch Gewerkschaftsdruck eingeführten und mit Steuerbefreiungen geförderten Arbeitnehmerversicherungen anbieten, auf die sich das amerikanische Gesundheitssystem früher stützte. Staatliche Gesundheitsfürsorge gibt es nur für Alte und Behinderte (Medicare), Soldaten und Veteranen (Tricare), Indianer (IHS) und bestimmte Gruppen von Armen (Medicaid und SCHIP).
Allerdings müssen fast alle Krankenhäuser nach dem Emergency Medical Treatment and Active Labor Act (EMTALA) in Notfällen auch solche Patienten behandeln, von denen sie annehmen, dass deren Rechnung nicht bezahlt wird. Die Kosten dafür können sie lediglich als Spenden von der Steuer absetzen. Dies hat einerseits zur Folge, dass Krankheiten häufig bis ins Notfallstadium verschleppt werden (und dann höhere Kosten verursachen, als wenn sie rechtzeitig behandelt worden wären), und andererseits, dass diese Behandlungskosten auf andere Rechnungen umgeschlagen werden.
Unter anderem deshalb haben die USA das mit Abstand teuerste Gesundheitssystem der Welt. Der letzten WHO-Statistik nach lagen die Kosten pro Person bei 7.290 Dollar jährlich und damit mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Ein anderer wichtiger Grund dafür sind die Bürokratien und Profite der privaten Krankenversicherungen, die erheblich mehr Geld verschlingen als ihre gesetzlichen Äquivalente in Kanada oder in europäischen Ländern: Während beispielsweise der Verwaltungsanteil gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland etwa 5 Prozent ausmacht, liegt er in den USA mit 24 Prozent fast fünf Mal so hoch. Dabei ist die medizinische Versorgung dort auch für reiche Patienten eher schlechter als besser: Im Vergleich zu Ländern wie Deutschland und Frankreich hat das Land eine deutlich niedrigere Ärzte- und Krankenhausdichte.
Trotzdem glauben viele Amerikaner den Beteuerungen von Pharma- und Versicherungslobbys, sie hätten ein im weltweiten Vergleich gutes Gesundheitssystem und Pläne für eine Regulierung würden in Rationierung enden. So behauptete etwa die Zeitung Investor's Business Daily, dass Stephen Hawking in einem System mit öffentlicher Gesundheitsvorsorge sterben müsse, worauf hin der behinderte Physiker klarstellte, dass er seit seiner Geburt in Großbritannien lebt und dort eigentlich recht gut versorgt ist. Allerdings erregte die Antwort eher in britischen als in amerikanischen Medien Aufsehen, wo man lieber Vergleiche zwischen der Gesundheitspolitik Obamas und Adolf Hitlers aufgriff, die bei näherer Betrachtung allerdings nach hinten losgingen.
Nach mehreren erfolglosen Entwürfen einzelner Abgeordneter einigte sich das Repräsentantenhaus am 7. November mit 220 zu 215 Stimmen auf den Affordable Health Care for America Act. Am 24. Dezember verabschiedete der Senat mit 60 zu 39 Stimmen eine eigene Version der Gesundheitsreform, den Patient Protection and Affordable Care Act. Obwohl deutsche Medien die Sachlage teilweise so darstellten, als sei die endgültige Verabschiedung der Gesundheitsreform nur mehr eine Formalität, unterscheiden sich beiden Gesetzentwürfe nicht nur in Details, sondern weichen teilweise auch in zentralen Fragen deutlich voneinander ab.
So will etwa das Repräsentantenhaus allen Amerikanern Zugang zu Medicaid gewähren, deren Einkommen weniger als 50 Prozent über der Armutsgrenze liegt, während der Senat diese Grenze bei 33 Prozent setzen will. Relative Einigkeit herrscht darüber, dass kleinere Betriebe mit zusätzlichen Steuererleichterungen und große mit einer Zwangsabgabe zum Anbieten einer Krankenversicherung für ihre Angestellten motiviert werden sollen. Durch diese Maßnahmen und durch die Einschränkung der Diskriminierungsmöglichkeiten von Menschen mit Vorerkrankungen soll 30 Millionen beziehungsweise zwei Dritteln der bisher unversicherten Amerikaner geholfen werden.
Uneinigkeit besteht hinsichtlich einer öffentlichen Krankenversicherungsalternative, die einen Leistungs- und Preiswettbewerb im Gesundheitswesen anregen soll: Das Repräsentantenhaus ist dafür - der Senat will diesen Effekt über private Non-Profit-Versicherungen erreichen. Ebenfalls strittig ist der Ausbau der staatlichen Aufsicht über private Krankenversicherungen - hier will der Senat die Kompetenzen eher bei den Bundesstaaten belassen, während das Repräsentantenhaus für eine zentrale Lösung plädiert.
Auch hinsichtlich der Finanzierung der neuen Leistungen und der Subventionen gibt es noch größere Unterschiede: Während der Entwurf des Repräsentantenhauses eine Ergänzungsabgabe auf Einkommen über 500.000 Dollar vorsieht, will der Senat stattdessen eine neue Steuer auf sehr teure Krankenversicherungen. Kosten soll der Plan des Repräsentantenhauses 105 Milliarden Dollar jährlich, der des Senats nur 87 Milliarden. Und während der Affordable Health Care for America Act am 22. November 2010 in Kraft treten soll ist ein Wirksamwerden des Patient Protection and Affordable Care Act erst für den 26. Dezember 2011 vorgesehen.
Normalerweise müssten die beiden divergierenden Entwürfe nun in einem Conference Committee, einer Art Vermittlungsausschuss, zu einem einzigen Text vereinheitlicht werden, der dann beiden Häusern erneut zur Abstimmung vorgelegt wird. Am Dienstag überredete Präsident Obama aber die demokratischen Fraktionsführer der beiden Kammern, sich informell über einen gemeinsamen Entwurf zu verständigen, was schneller gehen soll als der Weg über das Conference Committee. Hintergrund sind unter anderem die sogenannten Midterm Elections am 2. November 2010. Dann wird ein Drittel der Senatorensitze neu vergeben und das gesamte Repräsentantenhaus komplett neu gewählt. Weil Politik selten so ausfällt, wie sie im Wahlkampf versprochen wurde, profitiert von diesen Halbzeitwahlen traditionell eher die Oppositionspartei.
Als realistisch gelten republikanische Gewinne von bis zu 30 Sitzen im Repräsentantenhaus, wo die demokratische Mehrheit derzeit bei 256 zu 178 Sitzen liegt. Ein solches Ergebnis würde zwar noch keine GOP-Mehrheit bedeuten, aber die Chancen für die Gesundheitsreform verringern, weil viele demokratische Abgeordnete eher den Positionen von Lobbyisten zuneigen, die ein wirtschaftliches Interesse an einem Scheitern der Krankenversicherungspläne haben. Wie stark dieser Einfluss ist, zeigte sich an der mit 220 zu 215 Stimmen relativ knappen Mehrheit für den Affordable Health Care for America Act. Auch im Senat gilt eine direkte republikanische Mehrheit nach den Novemberwahlen als unwahrscheinlich - allerdings ist gut möglich, dass die Demokraten ihre von zwei unabhängigen Senatoren abgesicherte 60-zu-40-Mehrheit verlieren, mit der sie aktuell Verzögerungen im Gesetzgebungsprozess verhindern können.