Zwei unvereinbare Tendenzen in der Linkspartei?

Seite 3: Jenseits von Interesse und Identität

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Das dürfte allerdings nicht für die Politikwissenschaftler Mario Neumann und Sandro Mezzadra gelten, die kürzlich in einer knapp 70-seitigen im Laika-Verlag herausgegebenen Flugschrift unter dem Titel "Jenseits von Interesse & Identität" einige Thesen für eine linke Perspektive nach dem Ende des Wohlfahrtsstaates formuliert.

Dabei haben sie sich klar gegen den Flügel Lafontaine-Wagenknecht positioniert, den sie als neuen deutschen Linkspopulismus klassifizieren. Dabei haben sie recht, wenn sie sich gegen jeden Versuch einer nationalen Sozialpolitik wehren, der davon lebt, dass er große Teile der Bevölkerung, nämlich alle, die keinen deutschen Pass haben, ausschließt.

Globale Politik ist möglich und notwendig

Eine solche Politik widerspricht nicht nur emanzipativen Ansprüchen einer Linken, sie ist auch deshalb illusionär, weil es kein Zurück mehr zum Wohlfahrtsstaat gibt, der mit dem Fordismus untergegangen ist. Der gegenwärtige Stand der Produktivkräfte macht eine globale Politik möglich und notwendig. Das kann man an vielen Beispielen aufzeigen.

So ist es heute nicht mehr entscheidend, ob in einem Land viel Getreide wächst oder ob es dort viele Bodenschätze gibt. Es wäre vom Stand der Produktivkräfte möglich, weltweit Verhältnisse zu schaffen, mit denen die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigt werden könnten. Das heißt nicht nur, dass heute niemand mehr hungern müsste, sondern dass alle gesunde Ernährung haben könnten.

Verhindert wird das vom herrschenden Primat der kapitalistischen Verwertung. Danach sind Nahrungsmittel eben Waren, die, wie alles im Kapitalismus, der Profitmaximierung und nicht der Bedürfnisbefriedigung dienen. Und so werden heute eben Nahrungsmittel eher vernichtet, wenn sie die Preise drücken könnten, als an diejenigen verteilt, die sie brauchen.

Weltweiter Anspruch

Dagegen ist schon vor mehr als 100 Jahren eine Arbeiterbewegung aufgetreten, die ganz bewusst einen weltweiten und keinen nationalen Anspruch hatte. Schon immer war die Arbeiterklasse international zusammengesetzt. So zogen viele Menschen aus Polen Ende des 19.Jahrhunderts ins Ruhrgebiet. Die nationalen Schranken und Ressentiments verloren dann in Streiks immer mehr an Bedeutung. Hier konnte man sehen, wie in realen Kämpfen eine Arbeiterklasse entstand.

Auch Frauen gehörten schon immer dazu. Und es war der Kampf der proletarischen Frauenbewegung, auch gegen patriarchale Vorstellungen in den eigenen Reihen, den Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften, anzukämpfen. Von dem Wirken dieser proletarischen Frauenbewegung zeugt noch der 8. März als Kampftag der proletarischen Frauen, davon zeugen aber auch noch Lieder wie "Brot und Rosen", die Streiks proletarischer Frauen begleiteten und auch noch erstaunlich aktuell sind.

Hier ergäbe sich eine Orientierung für eine linke Politik in- und außerhalb von Parteien. Doch Neumann und Mezzadra zeichnen eher ein Zerrbild einer rein männerdominierten nationalen Arbeiterbewegung und machen keine Unterschiede zwischen den reformistischen und revolutionären Flügel.

Welches 1968 verteidigen Mario Neumann und Sandro Mezzadra?

Dafür beschwören sie mehrmals die Errungenschaften der 1968-Bewegung, die sie verteidigen. Sie haben recht, wenn sie in dieser sehr vielfältigen Bewegung und ihren Ausläufern auch eine praktische und theoretische Kritik an den Erstarrungen und Fehlern der damals real existierenden Arbeiterbewegungen, seien sie stalinistischer oder sozialdemokratischer Prägung, erkennen.

Allerdings beteiligen sie sich selber am Mythos der 1968-Bewegung, wenn sie nicht erwähnen, dass in Italien die entscheidenden Weichenstellungen für eine linke Arbeiterbewegung schon Anfang und Mitte der 1960er Jahre von Dissidenten der erstarrten Kommunistischen Partei erfolgt sind. Um 1968 verschmolzen diese Interventionen mit diversen anderen Bewegungen, dazu gehörten feministische Interventionen ebenso wie kulturrevolutionäre Neuerungen.

Diese hatten von Anfang an einen Doppelcharakter. Ein Flügel wollte eine globale linke Offensive befördern, der andere Flügel der 68er-Bewegung, der sich schließlich durchsetzte, bedeutete das Wetterleuchten eines neuen nachfordistischen Akkumulationsregimes des Kapitalismus, das später verkürzt Neoliberalismus genannt wurde.

Bei Neumann und Mezzadra erfolgt diese Differenzierung der von ihnen so hochgelobten 1968er-Bewegung leider nicht. So bleibt hier immer noch der Weg zu grünen Karrierebestrebungen offen, die sich ja nicht zu Unrecht auf den Teil der 1968er berufen, der den veränderten Bedingungen eines Kapitalismus nach dem Fordismus entspricht, aber an kapitalistischer Ausbeutung nichts ändern will.

Zu den politischen Bezugspunkten der beiden Autoren gehört der italienische Philosoph Antonio Negri, der schon mehrmals realpolitisch Positionen der Grünen im europäischen Maßstab unterstützt hat, und der Philosoph Thomas Seibert, der im Institut Solidarische Moderne an der Formulierung einer neuen sozialdemokratischen Politik im Nachfordismus beteiligt ist.

Die Zukunft linker Politik

Er befindet sich in sehr schroffer Frontstellung gegen den Lafontaine-Wagenknecht-Flügel in der Linken, vertritt aber eine andere Variante reformistischer Politik. Wie Seibert setzen sich auch Neumann und Mezzadra für eine emanzipative Flüchtlingspolitik ein. Ihr blinder Fleck ist aber, dass sie die Menschen, die in ihren Ländern bleiben, kaum erwähnen.

Sie stellen sich auch nicht die Frage, welche Folgen die Migration von nicht selten gut ausgebildeten Menschen aus den Ländern des globalen Südens für die Menschen hat, die bleiben wollen oder müssen. Aber auch solche Fragen gehören zu einem Text, der eine linke Perspektive aufzeigen will.

Diese Kritik schmälert nicht das Verdienst der Flugschrift, die schließlich eine Debatte ermöglichen kann, in der auch die Schwachpunkte des Konzepts von Neumann und Mezzadra selber benannt werden. Schließlich geht es um die Zukunft linker Politik und nicht um Personen, wie Neumann in einem Debattenbeitrag im Neuen Deutschland richtig bemerkt.

Die Frage wäre nicht damit gelöst, wenn sich eine reformistische Linkspartei in zwei Teile spaltet. Damit wäre eher garantiert, dass beide außerhalb des Parlaments blieben. Linke Politik hingegen kann sich vor allem in außerparlamentarischen Bewegungen, in Streiks, Arbeits- und anderen Kämpfen entwickeln.

Eine wichtige Rolle spielen dabei zunehmend Mietkämpfe wie Philipp Mattern in einem Beitrag der Monatszeitung analyse und kritik gut begründet hervorhebt. Seine Beiträge erscheinen in loser Folge unter dem Titel Neue Klassenpolitik. Dort geht es nicht um Die Linke und den Parlamentarismus, sondern tatsächlich um Klassenkämpfe, in welch embryonaler Form auch immer sie sich präsentieren.