Zwischen Russophobie oder Russophilie
Unser Russland-Bild wird immer noch von Vorurteilen, überkommenen Reflexen und alten Feindbildern beherrscht
Das Bild, das über Russland hierzulande, aber auch in weiten Teilen des liberal-aufgeklärten Westen im Umlauf ist, ist vielfach klischeebehaftet und wird von Vorurteilen, überkommenen Reflexen und gängigen Feindbildern beherrscht, die weitgehend noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammen. Man denke nur an die heftigen Reaktionen, die das Buch von Gabriele Krone-Schmalz "Was passiert in Russland?" im Herbst 2007 in der Öffentlichkeit ausgelöst hat, als die langjährige und ehemalige ARD-Korrespondentin versuchte, einige dieser Stereotypen der genaueren Prüfung zu unterziehen und ein anderes, realistischeres Bild von der gegenwärtigen politischen Lage in Russland zu malen.
Der Westen gewann die Weltherrschaft nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder Religion, sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung organisierter Gewalt
Samuel P. Huntington, Clash of Civilizations
Alte Denkmuster
An dieser Sichtweise haben auch der Fall der Mauer, der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und das Ende der bipolaren Weltordnung wenig ändern können. Obwohl die Welt seitdem eine vollkommen andere geworden ist, werden Russland-Debatten immer noch mit den ewig gleichen Argumenten geführt, die zwischen Ressentiment oder Appeasement hin und her pendeln und traditionell mit einer Mischung aus Angst, Abscheu und Mitleid auf das Land blicken. Vor allem oder erst recht, seitdem Vladimir Putin die politischen Geschäfte des Landes führt und es sich selbstbewusster den politischen Zumutungen der westlichen Weltmacht und ihren Alliierten entgegenstemmt.
Wollen die einen in Putins Russland vor allem jenen sowjetischen Bären erblicken, der wieder globale Ambitionen hegt, seinen Einfluss in Europa stärken und ausweiten und seine unmittelbaren Nachbarn unter seine Knute bringen will (Der Traum von der Wiederherstellung des Russischen Imperiums), fordern die anderen dazu auf, mehr Verständnis für die besondere Lage und den besonderen Status des Riesenreiches aufzubringen, das geografisch wie historisch an jener Nahtstelle angesiedelt ist, wo westliche und asiatische Kultur aufeinanderprallen. Schon aufgrund seiner enormen Größe, der riesigen Entfernungen, die zu bewältigen sind, und der vielen Völkern und Kulturen, die auf seinem Territorium beheimatet sind, könne Russland nicht mit "westlichen" Maßstäben gemessen werden und müsse darum seinen eigenen Weg gehen (Europa erlebt einen kalten Frieden).
Die Frage, die ich im Folgenden angehen möchte, ist aber, ob man mit solchen zweiwertigen Beobachtermustern, die Russland nach demokratietheoretischen Maßstäben beurteilen, aber damit nur die bipolare Feindordnung des vergangenen Jahrhunderts reproduzieren, der Entwicklung der Welt post 1989 und der geopolitischen Lage des heutigen Russlands gerecht wird. Oder ob man mit dieser werthaltigen Verortung Moskaus (Stand Up to Putin) nur ein recht eingeschränktes und rudimentäres Bild von jenen weltpolitischen Realitäten bekommt, mit denen das Land derzeit konfrontiert ist und in Zukunft konfrontiert sein wird.
Globaler Wettbewerb
Als 1989 die Mauer fiel, und im Zuge dessen 1991 die Sowjetunion und die alte, zweiwertige Ordnung wie ein Kartenhaus in sich zusammenkrachte, sah es kurzzeitig so aus, als ob alle Totalitarismen verschwänden und dem weltweiten Siegeszug von Kapitalismus, Liberalismus und Demokratie nichts mehr im Wege stünde. Und in der Tat bildete sich namentlich auf dem Gebiet des Warschauer Paktes bald eine Vielzahl neuer Demokratien, die dieser Hoffnung neue Nahrung gaben.
Doch dem Glauben an die Vorherrschaft der liberalen Demokratie war nur ein kurzer Sommer beschieden. Folgt man Fareed Zakaria (The Rise of Illiberal Democracy), dann ist die Demokratie, global betrachtet, spätestens seit Mitte der 1990er Jahre wieder auf dem Rückzug. Auf dem Vormarsch sind dagegen politische Systeme, die vormachen, dass Wohlstand und Autokratie, offene Wirtschaft und geschlossenes politisches System durchaus kompatibel sind und diese Kombination für andere Nationen eine Erfolg versprechende Option sein kann. Diese Staaten haben zwar eine marktwirtschaftliche Grundordnung, aber ihre Machtbasis verbleibt weiter zentral in den Händen einer Elite, einer Herrscherfamilie oder einer Partei.
Dies zeigt, dass Modernisierung folglich auch eine andere Richtung nehmen kann, sie läuft nicht mehr mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf eine liberale Demokratie zu. Prosperität und Sicherheit lassen sich auch erreichen, ohne dass ein Land gezwungen ist, den Preis politischer Liberalisierung dafür zu zahlen. So bieten etwa Russland und China ein autokratisches Konkurrenzmodell zum Westen, das Ordnung, Wohlstand und Entwicklung garantiert und seiner Bevölkerung eine Vielzahl persönlicher Freiheiten einräumt. Vor allem seitdem es dem Land gelingt dank seiner Energieressourcen und seines Rohstoffreichtums auch die Mitte der Gesellschaft mit Konsumgütern und Sozialtransfers zufrieden zu stellen und den Lebensstandard der Mehrheit entscheidend zu heben. Auf diese Weise ist das heutige Russland ein moderner Staat geworden, das nichts mehr mit jenem totalitären System gemein hat.
"Zum ersten Mal seit vielen Jahren", sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor einiger Zeit, "besteht auf dem Markt der Ideen ein echtes Wettbewerbsumfeld zwischen unterschiedlichen Wertesystemen und Entwicklungsmodellen". Sollten sich andere Länder die Erfolge Russlands und Chinas zum Vorbild nehmen, könnte das zu einem globalen Wettbewerb führen, bei dem der Westen sein Monopol auf den Globalisierungsprozess allmählich verlieren könnte.
Bevölkerungsanteile in den autonomen Gebieten
Und dieses neue Selbstbewusstsein, das Russlands Führer an den Tag legen, kommt nicht von ungefähr. Sie sind nicht nur überzeugt, dass ein autokratisches Regierungssystem für ihre Nation geeigneter ist als eine Demokratie westlichen Typs. Sie glauben auch, dass nur eine starke Regierung ihrer Bevölkerung politische Stabilität und die Aussicht auf mehr Wohlstand garantieren und ihren Vielvölkerstaat vor Chaos und Zusammenbruch retten kann. Für sie ist Demokratie nicht die Antwort auf die materiellen Nöte und Sorgen der Menschen. Für sie sind Ordnung, Stabilität, Sicherheit und Schutz vor Raub, Mord und Verbrechen zunächst viel wichtiger als individuelle politische Freiheiten. Erst wenn ein politisches Gemeinwesen in der Lage ist, seinem Volk diese Grundbedürfnisse zu gewährleisten, wird die Frage nach politischen Freiheiten überhaupt erst laut und relevant.
Blinder Fleck
Diese anthropologische Bedürftigkeit des Menschen hat die westliche Demokratietheorie in ihrem wertorientiertem Übereifer lange Jahre vernachlässigt oder einfach aus ihren Diskursen ausgeblendet. Sie hat sich nur noch an universalistischen Werten und Vorgaben orientiert, die sie der westeuropäischen Aufklärung entnahm, aber nachgerade nur zirkelhaft begründen kann. Verwundern kann das nicht, besitzt sie ihre wissenschaftlichen Wurzeln doch in Großbritannien und den USA und wird von westlichen Ideen getragen, die ausdrücklich universalistisch orientiert sind.
Dadurch verbleiben Beobachtungen, wie wir seit Niklas Luhmann wissen, einer "ersten Ordnung" verpflichtet. Der Beobachter sieht nur, was er sehen kann oder will. Im Falle Russlands eben erhebliche Defizite, was die Gewährung politischer Freiheiten angeht, nicht aber, dass die Bevölkerung diese gar nicht für so wichtig erachtet, weil sie damit bislang eher negative Erfahrungen gemacht hat und darum Rechtssicherheit, Wohlstand und Nationalstolz höher einschätzt. Dieser blinde Fleck käme in den Blick, wenn die Politologie zu einer "Beobachtung zweiter Ordnung" übergehen und statt idealtypisch vermessene Gegenstände auch jenen Beobachter beobachten würde, wie er beobachtet. Das heißt, wie und nach welchen Kriterien, Werten oder Maßstäben wird unterschieden, wenn er dem heutigen Russland einen Mangel an politischen Freiheiten vorhält.
Für eine wertebasierte, normative Theorie, die sich ausschließlich an universalistischen Prämissen orientiert, mag ein derartiges Beobachtungsschema genügen. Es reicht aus, um gute und schlechte Haltungsnoten zu vergeben und die Guten ins Töpfchen und die schlechten ins Kröpfchen zu tun. In der praktischen, internationalen Politik ist eine derart wertorientierte Haltung aber fatal. Nicht nur, weil sie fundamentalistische Weltsichten befördert, die andere Staaten, Kulturen und Werte nur nach Maßgabe eigener, als überlegen eingestufter Werte und Normen beobachten und beurteilen kann oder will. Sondern auch, weil sie, wie die jüngste Vergangenheit gezeigt hat, eine Vielzahl humanitärer Interventionen nach sich zieht, die den "Weltbürgerkrieg" fördern und statt zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung zu mehr Elend, Krieg und Tod führen.
Sowohl in WK I, in Korea und Vietnam als auch im Irak, in Somalia oder in Afghanistan konnte und kann man beobachten, welche blutigen Folgen eine solche werthaltige Politik haben kann. Zuletzt haben dies recht leidvoll die neokonservativen Revolutionäre zur Kenntnis nehmen müssen, als sie den Export von Demokratie zum militärischen Verkaufsschlager machen wollten und sich dabei eine blutige Nase holten. Westliche Werte und westliche Demokratie lassen sich nicht einfach von hier nach dort exportieren oder fremden Kulturen aufdrängen. Was in Japan oder Deutschland funktioniert hat, muss noch lange nicht in Zentralasien, im Kaukasus oder im Mittleren Osten funktionieren. Politische Transformation kann immer nur von innen kommen, von der Bevölkerung selbst, aber nicht von außen verordnet werden.
Westliches Fehlverhalten
Hinzu kommt, dass der Westen all seine Zusagen gebrochen hat, die er post 1989 Russland gegeben hatte. Weder hat der Westen militärisch abgerüstet noch hat er seine Waffenarsenale oder Truppen in dem Maße reduziert, wie er es angekündigt hatte. Im Gegenteil, NATO und EU haben ihre Einfluss- und Machtsphären Stück für Stück immer weiter nach Osten geschoben und sind Russland gehörig auf den Pelz gerückt.
Seit dem Jahr 2000 sind die baltischen Staaten Mitglieder der Nato. Dadurch steht nicht bloß das westliche Militärarsenal gerade mal sechzig Kilometer von St. Petersburg entfernt. Damit ist auch der russische Marinestützpunkt Kaliningrad geographisch von Nato- und EU-Staaten umringt. Hunderte von US-Militärberatern tun Dienst in Georgien, obwohl der Kaukasus traditionell zur russischen Einflusssphäre gehörte. In Usbekistan und Kirgisien hat Washington US-Militärstützpunkte errichtet. Es hat den ABM-Vertrag einseitig aufgekündigt, um Komponenten ihres antiballistischen Nuklearsystems in Polen und Tschechien stationieren zu können (Verlogene Kritik an Putin).
Nicht ganz zu unrecht fühlt sich Russland von den USA und der Nato eingekreist, es vermisst internationalen Respekt und fürchtet die Sicherheit seiner Grenzen. Im liberalen Westen erkennt Moskau den Hegemon, der sich gern als Lehr- und Zuchtmeister (Die Grenzen der Lehrmeisterei) aufspielt, sich stets auf der Seite des Rechts und des Guten wähnt und dessen Vorstellungen, Ratschläge und Einsichten alle anderen folgen müssen.
Es verwundert daher nicht, warum jede oppositionelle Bewegung dort automatisch und sofort als strategischer Partner des Westens betrachtet wird und der Verdacht aufkommt, dass jede Opposition vom Westen aus ferngesteuert ist. "Es gibt einen wachsenden Einfluss fremden Geldes, das dafür genutzt wird, sich direkt in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen", stellte Putin im April 2007 vor der Volksversammlung fest. "Nicht jeder ist an einer stabilen Entwicklung unseres Landes interessiert. Einige wollen zurück in die Vergangenheit, als man den Staat und die Leute ausraubte, unseren natürlichen Reichtum plünderte und die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit unseres Landes bedrohte."
Und in der Tat ist, wie wir wissen, diese Sorge nicht ganz unberechtigt. Nahezu alle zivilgesellschaftlichen Akteure, die in Russland, in der Ukraine oder in Georgien tätig sind, erhalten medienpolitische oder finanzielle Unterstützung aus dem Westen, entweder von der Soros Foundation und anderen gemeinnützigen Unternehmen oder direkt aus dem Haushalt der CIA. Ohne sie hätte es vermutlich die Revolutionen in der Ukraine oder in Georgien gar nicht gegeben. Wer Putins Verdacht als nationale Paranoia abtut, um unbequeme politische Institutionen zu liquidieren, wird den tatsächlichen Geschehnissen im Land nicht gerecht.
Moralisch nicht unbefleckt
Andererseits haben sich die USA, die gemeinhin als Leuchtturm liberaldemokratischer Gesinnung gelten, in den letzten Jahren nicht gerade mit Ruhm bekleckert, was die Wahrung und Achtung internationalen Rechts angehen. Namentlich die amerikanische Nation hat einiges getan, um die liberale Demokratie weltweit zu diskreditieren. Sie haben nicht nur auf Drängen Westeuropas auf dem Balkan einen völkerrechtswidrigen Krieg geführt, ihre Führer haben auch den Sicherheitsrat und ihr Volk bewusst und absichtlich belogen, sie haben Beweise gefälscht, um mit einer Allianz der Gutwilligen den Irak militärisch angreifen und besetzen zu können. Von den rechtswidrigen Zuständen, die sich in Guantanamo, Abu Ghraib oder anderen geheimen Lagern im Irak, im Indischen Ozean oder anderswo abspielen oder abgespielt haben, mal ganz zu schweigen.
Der Westen tut folglich gut daran, seine moralischen Ansprüche etwas zurück zu fahren. Putin lag ja nicht vollkommen daneben, als er sich Frau Merkels Kritik am Vorgehen der russischen Polizei gegenüber Regimekritikern mit Verweis auf die polizeistaatlichen Zustände in Heiligendamm anlässlich des Treffens der G7 verbot. Es ist ein offenes Geheimnis, dass auch die liberalen Demokratien ihren Bürgern und Bürgerinnen zusehends misstrauen. Sie überwachen deren Telefonverkehr und Datenaustausch, speichern persönliche Daten oder kontrollieren deren Geldgeschäfte. Französische Philosophen sprechen seit Jahren von einer ausufernden "Überwachungs- und Kontrollgesellschaft", die sich in den westlichen Demokratien ausbreitet.
Mit der geistigen Überlegenheit der freiheitlich-marktwirtschaftlichen Ideologie des Westens, die neben der alltäglichen oder technischen maßgeblich am Zusammenbruch der östlichen marxistisch-leninistischen Ideologie beteiligt war, steht es nicht zum Besten - jedenfalls in den letzten Jahren nicht mehr. Auch die so genannten universalistischen Systeme sind nicht frei von Heuchelei und Doppelmoral. Man tritt dann für Demokratie ein, wenn es einem geopolitisch in den Kram passt, im Irak, aber nicht im Libanon, in Jordanien oder in Gaza-Stadt; man politisiert die Menschenrechtsfrage in China und Tibet, in Ägypten oder Saudi-Arabien schließt man dagegen höflich die Augen; man versorgt Israel und Pakistan mit Massenvernichtungswaffen, schließt mit Indien einen Nuklearpakt, überzieht andere Staaten aber mit einem Proliferationsverbot.
Grund- oder Luxusbedürfnisse?
Längst wissen wir, dass Medienpluralismus, Meinungs-, Presse- und andere politische Wahlfreiheiten nicht die einzigen oder entscheidenden Kriterien sind, die über das Wohl und Wehe eines politischen Staates oder Systems befinden. Durch freie und unabhängig Wahlen können, wie die Geschichte häufig gezeigt hat, sehr wohl fundamentalistische oder andere freiheitsfeindliche Akteure oder Gruppen an die Macht kommen. Da muss man nicht sogleich an Hitler-Deutschland denken, es reicht auch, den Blick in den Mittleren Osten schweifen zu lassen. Würden in Ägypten freie Wahlen stattfinden, hätte die Muslimbruderschaft dort schon längst das politische Ruder in der Hand. Selbst amerikanische Denker sind mittlerweile geneigt, einer "liberalen Autokratie" den Vorzug vor einer "illiberalen Demokratie" zu geben (Weniger Demokratie wagen).
Nachrangig wird der Besitz dieser oder das Recht auf diese oben erwähnten politischen Freiheiten, wenn die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln wie Strom, Nahrung und Unterkunft hakt oder die legitimen Schutz- und Sicherheitsinteressen der Bürger nicht mehr gewahrt sind oder gewahrt werden können. "Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral", wusste schon Bertolt Brecht, die er in seiner Ballade "Wovon lebt der Mensch?" zum Besten gab. Diesen "Kampf aller gegen alle", der Thomas Hobbes seinerzeit zur Abfassung des Leviathan veranlasst hat und seitdem zum Grundtext jeder Staatstheorie geworden ist, muss man aber im Hinterkopf haben, wenn man das heutige Russland objektiv, fair und differenziert beurteilen will.
Dessen "postsowjetische" Entwicklung beginnt bekanntlich nicht mit der ersten Präsidentschaft Boris Jelzins, sondern bereits mit dem Amtsantritt des letzten Generalsekretärs der KPdSU Michael Gorbatschow. Angesichts der trostlosen wirtschaftlichen Lage, in die sich das Imperium dank seiner technologischen Rückständigkeit, seiner geringen Strahlkraft und seiner ökonomischen Schwerfälligkeit manövriert hatte; aber auch in die es dank des militärischen Wettrüstens, die die Vereinigten Staaten in Gestalt der Reaganomics dem kommunistischen Feind aufgezwungen hatten, gekommen war, stand der neue Mann im Kreml vor der kniffligen Frage, wo er ansetzen sollte, um daran etwas Grundlegendes zu verändern: bei der Wirtschaft oder bei der Politik.
Privatisierungs-Schock
Die Tragik, der Irrtum oder der Fehler Gorbatschows war es, dass er sich, anders als die chinesischen Kommunisten für die Politik entschied, er gewährte politische Freiheiten in der vagen Hoffnung, dass diese später zwangsläufig auch zu mehr Wohlstand in Russland führen würden. Durch seine falsche Entscheidung, Glasnost vor jeder Perestroijka einzuführen, wurde er zwar im Westen zum Gorbi-Superstar. Überall, wo er hinkam, wurde er mit "Gorbi! Gorbi!"-Rufen empfangen und ähnlich wie Barack Obama heute als charismatischer Erneuerer bejubelt und gefeiert. Mit diesem Missgriff wurde er aber zum "Totengräber" des sowjetischen Imperiums. Der 1991 erfolgte Zusammenbruch der Sowjetunion und der Verlust knapp eines Drittels seines früheren Reiches hinterließen im mentalen Haushalt der politischen und militärischen Eliten tiefe Spuren, die das heutige Russland noch prägen.
Die Jahre, die unter Boris Jelzin folgten, mögen vielleicht ein Hort politischer Freiheiten gewesen sein, aber Freiheiten für wen und um welchen Preis? Fakt ist, dass unter Jelzin und seinen liberalen Mitstreitern Jegor Gaidar (Wären wir doch langweilig, Putins böses Spiel mit der faschistischen Bedrohung) und Anatoli Tschubais die Rechtsunsicherheit im Land stetig wuchs. Während Korruption und Kriminalität prosperierten, verarmte die Bevölkerung zunehmend. Gleichzeitig wurde Russland unter der kräftigen Mithilfe der Chicago-Boys, die seinerzeit schon Chile unter dem Diktator Pinochet wirtschaftlich an die Wand gefahren haben, aber die Jelzin als Wirtschaftsberater ins Land lobte, zum Spielball skrupelloser Oligarchen, die sich den materiellen Reichtum des Landes angeeignet hatten und dann, als sie auch über die Öffentlichkeit autokratisch zu herrschen begannen, auch noch nach der politischen Macht greifen wollten.
Jelzin war meilenweit davon entfernt, ein lupenreiner Demokrat gewesen zu sein. Er ließ 1993 das russische Parlament beschießen und setzte eine Verfassung in Kraft, die unliebsame Parteien und Gruppen von den Wahlen ausschlossen und ihm autokratische Macht verlieh. Dass er damals vom Westen wegen dieses illegalen Aktes nicht heftig gescholten wurde, lag einfach daran, dass man in dem launischen Populisten und notorischen Trinker das kleinere Übel sah gegenüber einer durchaus möglichen Rückkehr der Kommunisten an die Schalthebel der Macht.
Seit Jelzins Verfassungsreform haben sich die formalen politischen Strukturen nicht merklich gewandelt. Es macht daher wenig Sinn, Putins politische "Pseudodemokratie" gegen Jelzins "Semidemokratie" ausspielen zu wollen. Gewiss war Jelzin prowestlich eingestellt, Putin, der seine politische Sozialisation in der alten DDR und in St. Petersburg erfahren hat, aber als antiwestlich zu bezeichnen, ist dagegen kühn.
Die Nation am Boden
Als Jelzin abtreten musste, war die staatliche Autonomie des Landes nach innen und außen arg eingeschränkt. Die russischen Institutionen waren schwach und zerbrechlich, und die russische Föderation, die einen Restbestand des alten Imperiums sichern und verwalten sollte, hatte die Kontrolle über ihr Staatsgebiet mehr und mehr verloren. Im Westen stand Moskau so stark in der Kreide, dass der Währungszusammenbruch im Herbst 1998 fast zwangsläufig erfolgen musste. Um einen permanenten Gegner empfindlich zu schwächen, lehnte der von Washington dominierte IWF nicht ganz zufällig eine finanzielle Soforthilfe direkt ab.
Schließlich hatte Moskau seine ohnehin schon geringe, außenpolitische Reputation in der Welt ganz verloren. Sein Gewicht war Ende der neunziger Jahre so niedrig wie der Wert des Rubels. Obwohl Jelzin Kriege in Tschetschenien geführt hatte, lag dort, in einem Gebiet, das etwa die Größe Thüringens besitzt, die Macht vielerorts in den Händen schwer bewaffneter krimineller Banden und Extremisten. Tschetschenien war, was im Westen und dort vor allem von Menschenrechtskriegern wie Bernhard Lévy oder André Glucksmann (Putin, der Böse) gern unterschlagen wird, unter anderen ein Trainingslager für Jihadisten aus mehr als 50 Staaten.
Ausverkaufstopp
Richtig ist, dass mit der linksliberalen Regierung Primakow, den Jelzin auf Druck des Parlaments inthronisierte, der wirtschaftliche Turnaround begann. Durch ihre Fiskalpolitik und die Abwertung des Rubels, machte sie die Importe billiger und erleichterte russische Exporte ins Ausland. Richtig ist aber auch, dass die wirtschaftliche wie sicherheitspolitische Lage in Russland sich erst dann merklich besserte, als Jelzin Vladimir Putin zum Ministerpräsidenten machte. Noch im Herbst 1999 ließ Putin die aufständische Kaukasusrepublik restlos zusammenschießen. Russische Truppen besetzten, auch um den Preis anhaltender schwerer Menschenrechtsverletzungen, das Gebiet. Als der Widerstand gebrochen war, installierte Putin dort eine moskautreue Regierung.
Mit Hilfe des von ihm zuvor geleiteten Inlandsgeheimdienstes FSB entmachtete er im ersten Jahr seiner Präsidentschaft die Oligarchen, darunter die beiden prowestlichen Medien- und Finanz-Tycons Wladimir Gussinski und Boris Beresowski, die er beide ins Exil trieb. Zugleich stoppte er den wirtschaftlichen Ausverkauf des Landes. Er ließ den Ölmilliardär und USA-Freund Michail Chodorkowski (Großer Fisch im Netz), der Teile des Ölkonzerns Yukos ans Ausland verhökern wollte, zu acht Jahren Verbannung verurteilen. Anschließend zerschlug er den Ölkonzern Yukos und verstaatlichte dessen Überbleibsel (Staatlicher Ölkonzern greift sich frühere Jukos-Tochter).
Um den geopolitischen Zusammenbruch Russlands zu verhindern, hob Putin die weitgehende Föderalisierung des Landes wieder auf, indem er die Duma schwächte, die relative politische Autonomie der "Regionalfürsten" aufhob und alle Macht wieder im Kreml versammelte (Re-Zentralisierung). Aufgeschreckt durch die Geiselnahme in einem Moskauer Theater und der Schule in Beslan, stärkte und modernisierte er die Sicherheitskräfte nachhaltig.
Zupass kam Putin dabei, dass parallel zum Aufbau eines autoritären Systems im Inneren Russlands die Preise für Öl und Gas weltweit anstiegen. Dadurch konnte er Armee und Sicherheitsdienste modernisieren, Erziehungsprogramme auflegen, die Infrastruktur stark verbessern und das Entstehen einer größeren Mittelschicht befördern, die ihn und seine Politik seitdem tragen. Dadurch leitete Putin nicht nur eine Periode der Ordnung und des Rechts ein, die das Land dringend gebraucht hatte, er gab den Russen auch jenen Stolz und Respekt wieder (Re-Nationalisierung) zurück, den sie erst unter Gorbatschow und später unter Jelzin, seinen liberalen Freunden und seinen angereisten amerikanischen Wirtschaftsberatern verloren hatten.
Eine Großmacht wie jede andere
Mit Autorität und nicht mit Demokratie hat Russland den verlorenen Status einer Großmacht zurückerlangt. Darin sind sich alle Beobachter einig. Mittlerweile reklamiert es, was von anderen Mächten ähnlicher Größe erwartet und wie selbstverständlich für sich in Anspruch genommen wird, nämlich nationales Interesse. Die Einmischung in die Belange der Ukraine (Embraceable EU) und der Krieg in Georgien (How to Manage Moscow) haben gezeigt, dass Moskau wieder auf der Weltbühne zurück ist. Russlands Verhalten unterscheidet sich weder strategisch noch moralisch von dem der Vereinigten Staaten. Moskau fordert eine politische Einfluss-, Interessen- und Sicherheitszone für sich und duldet geopolitisch keine Rivalen an seinen Grenzen oder in seinen Hinterhöfen. Geopolitisch bedeutsame Staaten werden, gleich ob es sich dabei um Folterknechte oder missliebige Tyrannen handelt, mit Geld, Waffen und anderen geheimen Diensten bei der Stange gehalten.
Wer diesem politischen Realismus mit Wertorientierung und Zensurengebung zu Leibe rücken will, der lenkt vom harten Ringen der Mächte um Einfluss, Macht und Ansehen ab. Die Weltordnung, auch eine liberale, fußt aber nicht bloß auf Ideen und Institutionen. Sie wird vor allem und in der Hauptsache von Machtkonstellationen geprägt. Seit die USA sich militärisch überhoben haben und das unipolare Moment der USA der Vergangenheit angehört, hat man es wohl oder übel mit einer multipolaren Welt zu tun. Durch die Finanzkrise wird diese geopolitische Drift noch einmal zusätzlich beschleunigt. Mit den Polen Russland, China, den USA, Indien und Europa wird diese multipolare Welt zweifellos eine eigene Ordnung mit anderen Regeln und Normen hervorbringen, die mit den Interessen, Ideen oder Ansprüchen einer liberalen Demokratie nicht unbedingt übereinstimmen.
Die USA und mit ihnen die westlichen Demokratien bilden, wie Dean Acheson, der Architekt der Truman-Doktrin, zu Beginn des Kalten Krieges noch formulieren konnte, längst nicht mehr die "Lokomotive an der Spitze der Menschheit", während der Rest der Welt "im Dienstwagen" sitzt. Um verbindliche Abkommen über das Weltklima, das Verbot von Proliferation oder den Einsatz von UN-Truppen zu erzielen, wird man mit einer politischen Theologie der Menschenrechte nicht weit kommen. Peking, Moskau und Teheran, um nur einige zu nennen, werden sich darum jedenfalls nicht scheren.
Der politische Realist weiß, dass man sich seine Gesprächs-, Verhandlungs- und Vertragspartner nicht aussuchen kann, wenn man zu politischen Ergebnissen kommen will. Wer das verkennt, verrennt sich wie die Bush-Regierung im Irak, am Hindukusch oder anderswo; und wer die Welt nach seinen Vorstellungen formen will, wird in Zukunft eine Menge an Frieden schaffenden Truppen brauchen, um die erforderliche Vielzahl an humanitären Interventionen militärisch erfolgreich exekutieren zu können.
Demokratie - ein Auslaufmodell?
Wohlstand, sozialer Aufstieg, Einkommen und Rechtssicherheit bieten inzwischen auch andere politische Systeme. Das ist die Botschaft des neuen Jahrhunderts post 1989. Darum ist die Entwicklung in Russland, China und Asien für den Westen ja auch so bedrohlich. Der Westen, der sich schon in der Rolle des großen Triumphators wähnte, wird erneut in einen globalen Wettbewerb gezwungen, bei dem es alles andere als sicher ist, ob er und sein politischer Exportschlager daraus jemals wieder als Sieger hervorgehen werden. Hält die wirtschaftliche Dynamik in diesen Ländern und Gegenden an, während sie im Westen eher stagniert oder zurückgeht, werden sich andere Nationen, Kulturen und Völker ein Beispiel daran nehmen. Es könnte sich alsbald herausstellen, dass die liberale Demokratie, weltpolitisch und welthistorisch betrachtet, ein Auslaufmodell ist.
Entscheidend für die weitere Entwicklung und Stabilität Russlands wird langfristig sein, wie es mit seinen demografischen Problemen fertig wird. Die russische Bevölkerung schrumpft jährlich um etwa 800 000 Menschen. Anders als Russland, Europa oder Japan, stehen die USA, Indien und China diesbezüglich besser da. Mittelfristig wird es dagegen eher entscheidend sein, wie Russland mit den Folgen der Finanzkrise zu Rande kommt. Allem Anschein nach versucht es die politische Führung wieder mit der Abwertung des Rubels und jenen steuerpolitischen Mitteln, die das Land bereits bei der Währungskrise 1998 aus dem Patsche geholfen haben. Indem es Importe durch deren Besteuerung massiv verteuert, etwa bei ausländischen Autos, stützt und schützt sie die heimische Autoproduktion und zwingt die Konsumenten dazu, russische Ladas zu kaufen. Ob ein solcher Protektionismus angesichts der weltweiten Vernetzung und Verdichtung von Waren, Kapital und Dienstleistungen da hilfreich ist oder die Krise eher verschärft, bleibt abzuwarten.
Bislang funktioniert das politische System ja auf einem Kuhhandel der Hobbes’schen Art: Zugunsten des wirtschaftlichen Aufstiegs verzichtet die Bevölkerung auf gewisse politische Rechte. Die Sozialtransfers, die der russische Staat tätigt, sind nur bis zu einem Preis von 70 Dollar pro Barrel Öl abgesichert. Aufgrund der gefallenen Öl- und Gaspreise kann er diese derzeit nur über Schulden oder aus den noch reichlich vorhandenen Devisenreserven bestreiten. Bleibt der Preis dafür weiter tief im Keller, sind diese Zahlungen mittelfristig gefährdet. Wie die Bevölkerung reagiert, wenn das Versprechen auf mehr Wohlstand in Mitleidenschaft gezogen wird, weiß niemand genau.
Dies gilt im Übrigen aber auch für alle anderen, für China, Europa, Japan und vor allem die USA. Auch Obama steht vor einem riesigen Schuldenberg, den er sich vom Ausland, insbesondere von seinem chinesischen Rivalen, finanzieren lassen muss. Politisch hochspannend wird sein, wer diese Probleme am besten und raschesten bewältigen und aus dieser weltweiten Misere gestärkt oder als Sieger hervorgehen wird. Dank seiner Energiereserven, seines Rohstoffreichtums und hohen Devisenbestands scheint Russland für dieses Machtspiel zumindest langfristig gut aufgestellt zu sein. Es liegt an seinen politischen Führern, ob es aus diesen Möglichkeiten, etwas für das Land und seine Bevölkerung Vernünftiges machen wird.