Zwischen Washington und Kabul

Proteste radikaler Islamisten in Pakistan werden aggressiver, aber nach Ansicht von Pevrez Musharraf sind sie in der Minderheit

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Neben dem Imam wirkt der Mann mit der großen, spiegelnden Brille unscheinbar. Der muslimische Geistliche bietet in seiner Afghanenkluft, mit Brille, Bart, langem Gewand, dunkler Weste und der typischen breitrandigen Stoffmütze einen würdevollen Anblick. Der General sitzt daneben mit gesenktem Kopf hinter einem Wust von Mikrofonen, hinter dem er fast untergeht. Das Surren der Klimaanlage ist in dem Moment am Montagmorgen das einzige Geräusch in dem Saal der Nationalbibliothek in Islamabad.

Plötzlich setzt der Imam zu einem gebetsartigen Gesang an. Er singt auf Arabisch und Paschtun, der Sprache von 60 Prozent der afghanischen Bevölkerung. Er singt einen Vers aus dem Koran. Allah, heißt es darin, hat Mann und Frau geschaffen, damit sie miteinander existieren. So wie er Völker geschaffen hat, damit sie miteinander existieren und damit sie voneinander lernen. Der Gesang dauert etwa fünf Minuten. Es folgt wieder das leise und gleichmäßige Surren der Klimaanlage. Dann rückt der General hinter den Mikrofonen seine Brille zurecht. Er mustert die rund 100 Journalisten aus aller Welt und fängt mit fester Stimme an zu reden. "Das ist meine erster öffentlicher Auftritt nach den Angriffen ", sagt Pevrez Musharraf, der Militärmachthaber von Pakistan.

Solche Symbolik zählt viel in diesen Tagen in Pakistan. Musharraf muss es gelingen, auf dem schmalen Grat zwischen dem Einfluss der starken - weil über Jahre staatlich geförderten - Fundamentalistengruppen und den Interessen der Vereinigten Staaten zu wandeln. Dass ihm das in diesen Tagen nur bedingt gelingt, wird besonders im Westen des Landes, in den Städten nahe der Grenze zu Afghanistan deutlich. Quetta und Peshawar befinden sich seit Sonntag quasi im Ausnahmezustand.

Am vierten Tag nach Beginn der US-Luftangriffe gegen Afghanistan ist die Stimmung bei den fundamentalistischen Gruppen gereizt wie nie zuvor. Für das Militärregime in Pakistan droht die Lage zumindest in Teilen Westpakistans außer Kontrolle zu geraten. Zwar lassen sich die fundamentalistischen Parteien und Verbände noch ansatzweise kontrollieren, einen völligen Unsicherheitsfaktor aber stellen die streng religiösen Flüchtlinge aus Afghanistan dar. Am Dienstag feuerte die pakistanische Polizei auf eine Gruppe von afghanischen Demonstranten, als sie versuchten, eine Polizeistation zu stürmen. Drei Tote waren zu beklagen, darunter ein 13-jähriger Junge.

"Tod den US-Imperialisten", schallte es am Mittwoch auch bei der dritten Demonstration in Folge durch Peshawar. Hunderte Sympathisanten des Taliban-Regimes im benachbarten Afghanistan zogen unter der schwarz-weiß gestreiften Fahne der Sepah-e-Sabah-Partei und mit Knüppeln bewaffnet durch die Strassen der Altstadt. Immer wieder sind auch die Rufe "Osama, Osama", zu hören. Und: "Musharraf, hüte Dich". Zunehmend rückt der pakistanische Staat selber ins Visier der radikalen Islamisten.

"Wenn die Angriffe gegen Afghanistan nicht gestoppt werden, wird kein Jude, Christ oder Hindu in Frieden leben", rief der Funktionär der Jamiat-e-Ulema-e-Islam-Partei (JUI), Maulana Attaur Rehman, vor seinen Anhängern am Dienstag in Peshawar. Seine Anhänger sollten in den Islam vertrauen und sich dem Djihad, dem Heiligen Krieg, anschließen. Dazu gehört nach Ansicht des JUI-Vorsitzenden auch das Töten von Mitgliedern anderer Religionen: "Denn die USA und die Juden haben den Muslimen den Krieg erklärt".

Universität geschlossen

"Die Kraft der afghanischen und pakistanischen Fundamentalisten besteht in der Radikalität", kommentiert Salman Shah die Rolle der Islamistischen Gruppen. Der 24-jährige Wirtschaftsstudent an der Universität von Peshawar ist ein erklärter Gegner der fundamentalistischen Gruppen, die "ohnehin in der Minderheit" seien. Auch an der Universität haben die Fundamentalisten inzwischen das Sagen, obwohl auf die rund 17.000 Studenten nur etwa Hundert organisierte Fundamentalisten kommen.

"Vor etwa einem Monat", berichtet Salman, "saß ich mit einer Freundin in einem Café auf dem Campus." Plötzlich seien zwei Mitglieder einer radikal-islamistischen Studentengrupe mit Holzknüppeln bewaffnet aufgetaucht und hätten seine Freundin aufgefordert, das Cafe zu verlassen. Das sei typisch für das Vorgehen der Gruppen, erklärt der Student, und darum gebe es auch so wenig Gegenwehr. Wenn es zur Konfrontation komme, seien die Fundamentalisten bereit zu sterben. "Ich bin das nicht", sagt Salman.

Insofern dürfte General Musharaf durchaus recht gehabt haben, als er die Fundamentalisten am Montag "eine terroristische Minderheit" nannte. Er verschwieg aber, dass diese Terroristen jahrelang vom Staat gefördert wurden. "Die Probleme sind hausgemacht", meint auch der Kanzler der Universität von Peshawar, Zulfiqar Gilani. Seit Ende der 70er Jahre habe der pakistanische Staat enge Bindungen mit den radikalen Islamisten unterhalten. Auch die USA hätten zu deren Erstarken beigetragen, weil in ihnen ein Gegengewicht zum Einfluss der Sowjetunion gesehen wurde.

Als ich Gilani in seinem Büro treffe, ist es still um uns herum. Die Universität ist seit Anfang der Woche geschlossen. "Auf Anweisung der Regierung", sagt der Kanzler. Unmittelbar nach Beginn der Angriffe seien einige Hundert fundamentalistische Studenten über den Campus gezogen und hätten eine Spur der Verwüstung hinterlassen. "Darum haben wir uns zum Aussetzen der Kurse entschlossen und die Studenten nach Hause geschickt". Die meisten Studierenden seien wahrscheinlich ohnehin zu Hause geblieben, vermutet Gilani, der die Tage der radikalen Islamisten gezählt sieht. "Der Wechsel in der Regierungspolitik diesen Gruppen gegenüber ist deutlich spürbar", sagt er. Das mache sie so wütend.

Klar ist, dass die Proteste solange weitergehen werden, wie die Luftschläge gegen Ziele in Afghanistan anhalten. General Musharraf hofft deswegen auf ein baldiges Ende der Militäraktion. Unklar ist, wieweit der Einfluss der radikalen Islamisten in die staatlichen Strukturen geht. Bei der Demonstration am Dienstag rief JUI-Fuehrer Rehman Polizisten und Soldaten auf, sich gegen den Staat zu wenden. "Unsere Regierung führt einen Krieg gegen das eigene Volk", so Rehman.

Auch der Student Salman Shah hofft derweil darauf, dass sich die Lage bald beruhigt. "Realistisch betrachtet hatten wir doch gar keine andere Chance, als die USA zu unterstützen", sagt er. Im Moment sei die Lage aber so schlimm wie nie zuvor. In der angeheizten Stimmung traue er sich Abends kaum mehr auf die Strasse, denn im Visier der Fundamentalisten stünden auch die, die sich ihnen nicht anschließen. "Ich hoffe, dass die ganze Sache bald vorbei ist, sagt der Salman, der in einem halben Jahr sein Studium abschließen will.

Noch während wir reden, fliegen über uns Kampfjets hinweg. Auch die Fundamentalisten wenige Kilometer weiter wird das nicht entgehen. Am Dienstag wurden von US-Jets erstmals auch tagsüber Angriffe auf Ziele in Afghanistan geflogen. Der pakistanische Luftraum steht ihnen dafür offen.

Harald Neuber, Peshawar