Zwischen den Fronten: Wer schützt die Bevölkerung im Gazastreifen?

Seite 2: Hamas und Schutzverantwortung? Ein Widerspruch in sich!

Nach ursprünglich osmanischer und anschließend englischer Herrschaft befand sich der Gazastreifen ab 1948 unter ägyptischer Kontrolle, bis er 1967 von Israel im sogenannten Sechs-Tage-Krieg besetzt wurde.

Schon vor 1948 war es zu immer stärkeren Spannungen zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung Gazas gekommen. Vermittlungsversuche zwischen Vertretern beider Seiten bereits im Jahr 1936 waren daran gescheitert, dass die jeweiligen Gebietsansprüche nicht miteinander in Einklang zu bringen waren.

Auch unter der ägyptischen Herrschaft waren die Bewohner des Gazastreifens staatenlos geblieben.

Die 1967 begonnene Besetzung durch Israel dauerte bis in das Jahr 2005 an, in dem das Land seine eigenen Truppen abzog.

Das dadurch entstandene Machtvakuum stellte sich als vorteilhaft für die Hamas heraus. Die Hamas wird von der EU, den USA, Kanada, Ägypten und Japan übereinstimmend als Terrororganisation eingestuft und regiert seit 2007 faktisch das Gebiet, dessen Kontrolle sie nach einigen Aufständen gewaltsam an sich gerissen hatte.

Das oberste und erklärte Ziel der Hamas besteht darin, den israelischen Staat zu vernichten und einen eigenen palästinensisch-islamischen Staat zu errichten. Die Anführer der Hamas erhalten Unterstützung (und Asyl) unter anderem vom Emirat Katar, insbesondere aber von Iran.

Eine Schutzverantwortung im Sinne der R2P gegenüber der eigenen Bevölkerung wahrzunehmen, kann man der Hamas mit der Einstufung als Terrororganisation kaum zutrauen. Sie ist in ihrer gesamten Konzeption und ihren Zielen gerade nicht darauf ausgerichtet, völkerrechtlichen Grundprinzipien Rechnung zu tragen.

Hinzu kommt, dass die Organisation nicht als legitimes Staatsoberhaupt auftritt, sondern die Bevölkerung Gazas mit Gewalt unterworfen hat. Nicht zuletzt ist die Hamas diejenige Partei, die die aktuelle Eskalation im Nahen Osten ausgelöst hat. Dass unter den Angriffen auf Israel und den Reaktionen darauf auch die eigene Bevölkerung leidet, dürfte den Hamas-Verantwortlichen bewusst gewesen sein.

Autonomiegebiet: Abbas ist allenfalls symbolisches Oberhaupt

Grundsätzlich allerdings ist der Gazastreifen palästinensisches Autonomiegebiet. Zu den Autonomiegebieten zählen außerdem Ostjerusalem und das Westjordanland.

Der Staat Palästina wurde inzwischen von rund 140 Ländern anerkannt. 60 Länder hingegen leugnen seine Existenz, darunter neben Israel auch Deutschland. Palästina steht die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) vor, die 1994 als Ergebnis der Friedensverhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gegründet wurde.

Ihre Aufgabe ist es, grundlegende Funktionen wie die Wasserversorgung, ein funktionierendes Schulsystem und die Bereitstellung von Strom in den Palästinensischen Gebieten zu gewährleisten. Damit kommt die PA einem Staatsoberhaupt des Gazastreifens, wie es die R2P voraussetzt, am nächsten.

Tatsächlich repräsentiert der Präsident der PA, Mahmoud Abbas, die palästinensische Bevölkerung auf der internationalen Bühne. Von der Europäischen Union (EU) erhält die PA die umfangreichsten Unterstützungsleistungen, an denen Deutschland mit etwa einem Fünftel beteiligt ist.

Im Jahr 2022 stammten rund 55 Millionen Euro an Unterstützungsgeldern aus Deutschland. Dabei steht seit geraumer Zeit heftige Kritik an der Regierung durch Abbas im Raum.

Nicht nur weigert sich der Politiker, demokratische Wahlen durchzuführen. Seit der Wahl Abbas’ im Jahr 2005 hat es keine Wahlen mehr gegeben, auch das Parlament hat sich in den letzten Jahren nicht mehr versammelt.

Auch besteht die Befürchtung, dass mit den europäischen Unterstützungsleistungen Familien von palästinensischen Attentätern "entschädigt" würden.

Abgesehen von der zweifelhaften Legitimation des Präsidenten hat die Behörde inzwischen de facto kaum noch Einfluss auf das Geschehen in Gaza. Der Gazastreifen ist kein souveräner Staat. Er ist vielmehr ein "halbstaatliches Gebilde", das von der PA (mehr oder minder effektiv) verwaltet wird.

Obwohl Gaza faktisch nicht autonom agieren kann, verfügt das Gebiet über eine gewisse politische Autonomie gegenüber der PA.

Dabei ist auch die Existenz der Autonomiebehörde und damit die palästinensische Selbstverwaltung selbst nur begrenzt völkerrechtlich legitimiert, denn die an der Gründung der PA im Jahr 1994 beteiligte PLO hat ihre Macht ebenfalls nicht durch Wahlen erlangt.

Abbas ist seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen machtlos. Auch Diskussionen darum, ob die Verwaltung des Gazastreifens künftig möglicherweise wieder unter Leitung der PA stehen könnte, bieten deshalb aktuell nur wenig Anlass zur Hoffnung.

Auch Israel als Schutzmacht für Gaza wäre paradox

Gleichzeitig übte Israel bis dato die Kontrolle über den Gazastreifen aus. Das Land überwachte die Land-, Luft- und Seezugänge zu Gaza, auch wenn seitens Israels eine anhaltende Besatzung seit 2005 bestritten wird.

Israel könnten die Schutzpflichten treffen, die eine Besatzungsmacht regelmäßig hat. Bei der Beurteilung, ob unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten eine Besatzung besteht, steht die Frage im Vordergrund, ob die Besatzungsmacht die "effektive Kontrolle" über das Gebiet ausübt.

Das wird von jenen, die den Begriff eng auslegen, erst dann angenommen, wenn die Besatzungsmacht das Gebiet selbst militärisch kontrolliert. Diese Situation wird auch "boots on the ground" genannt.

Von jenen, die eine weitere Auslegung des Begriffes der effektiven Kontrolle zulassen, wird eine Besatzung schon dann bejaht, wenn die Besatzungsmacht die Gewalt über Land- und Wasserzugänge zu einem Gebiet hat.

Vorsichtige Beobachter merken an, dass nur die militärische Präsenz selbst eindeutige Rückschlüsse über eine Besatzung erlaube. Man kann also durchaus über eine israelische Besatzung streiten.

Aber auch unabhängig von der Frage, ob eine Besatzung aus völkerrechtlicher Perspektive bis zum 7. Oktober noch bestand oder nicht, kann man in diesem Konflikt nicht voraussetzen, dass Israel als angegriffener Staat die Schutzverantwortung für die Bevölkerung im Gazastreifen trägt.

Denn das R2P-Prinzip setzt voraus, dass es sich bei der zu schützenden Bevölkerung um die eigene handelt. Israel mag zwar die Menschen im Gazastreifen durch eine andauernde Besatzungssituation in eine große Abhängigkeit getrieben haben, hat sie jedoch nie als eigene Bevölkerung anerkannt und darauf auch nie hingewirkt.

In dieser Situation muss für Israel der Schutz der eigenen Bevölkerung Vorrang haben. Das wird wohl von keiner der beteiligten Parteien und keinem internationalen Beobachter in Frage gestellt.

R2P scheitert: Verantwortung der internationalen Gemeinschaft?

Teil des Prinzips der Schutzverantwortung ist schließlich, dass die internationale Gemeinschaft interveniert, wenn ein Staat seiner Schutzverantwortung nicht gerecht werden kann oder will.

Dabei sind zunächst nur friedliche Interventionsmaßnahmen vorgesehen. Ein militärisches Einschreiten kommt nur im Falle des Scheiterns friedlicher Maßnahmen in Betracht.

In der oben erwähnten UN-Resolution führt die UN dazu aus:

In diesem Zusammenhang sind wir bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Regionalorganisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta (der UN), namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen.

Solche Maßnahmen können in militärischen Interventionen bestehen, aber auch im Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten.

In der Praxis stößt R2P allerdings hier oft an seine Grenzen. Denn den Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrats steht ein Vetorecht zu, mit dem sie entsprechende Einsätze, die der UN-Sicherheitsrat vorab beschließen muss, verhindern können.

Es ist naheliegend, dass das Vetorecht auch hier zum Einsatz käme, denn eine Befürwortung einer Intervention durch die UN in Gaza wäre gleichbedeutend mit einem Agieren gegen Israel.

Es bleiben damit nur friedliche Interventionsversuche der UN und insbesondere die humanitäre Hilfe für die palästinensische Bevölkerung.

Humanitäre Hilfe für Gaza muss weiterhin im Fokus stehen

Fest steht, dass Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas und ein daraus hervorgehendes baldiges Friedensabkommen nicht zur Debatte stehen.

Wenn eine Seite die andere vernichten will, gibt es keine Verhandlungsgrundlage.

Wie viel Verantwortung die Hamas für ihre eigene Bevölkerung zu übernehmen gedenkt, hat sich in den vergangenen Tagen, wenn nicht sogar Jahren, eindrücklich gezeigt.

Wer also steht an der Seite der Zivilisten im Gazastreifen? Israel kann es kaum sein. Der Einfluss der Palästinensischen Autonomiebehörde ist zweifelhaft. Umso drängender ist ein Einwirken der internationalen Gemeinschaft auf die Lage im Gazastreifen.

Sie ist die einzige Hoffnung, die den Menschen im Gazastreifen aktuell noch bleibt. Die palästinensische Bevölkerung gerät auf erbarmungslose Weise zwischen die Fronten Israels und der skrupellosen Machthaber ihres eigenen Landes.

Jeden Tag sind die Bewohner des Gazastreifens ein wenig mehr auf internationale Diplomatie und das Engagement der internationalen Staatengemeinschaft angewiesen.

Dieses Engagement ist seinerseits ein Drahtseilakt, denn es kann nicht konträr stattfinden zu der Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung weltweit, die unter den Anschlägen der Hamas leiden.

Aber es ist ein Drahtseilakt, der bewältigt werden muss. Denn die Bevölkerung in Gaza in einem Kriegsgebiet mit der nicht enden wollenden Gewaltherrschaft der Hamas allein zu lassen, kann keine Option sein.

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