Zwischen den Fronten: Wer schützt die Bevölkerung im Gazastreifen?

Nach israelischem Angriff auf Gaza. Bild: Ghassan Salem, CC BY 4.0

Israel hat Gaza weitgehend abgeriegelt, die humanitäre Hilfe reicht nicht. Wer ist für die gut zwei Millionen Bewohner des Gebiets verantwortlich? Eine Analyse.

Die humanitäre Notlage im Gazastreifen spitzt sich täglich zu. Auch Israel trafen jüngst wieder sogenannte Kassam-Raketen aus Gaza.

Während Israel die militärischen Interventionen im Gazastreifen mit dem Schutz und der Verteidigung der eigenen Bevölkerung rechtfertigt, bleibt oft unklar, wer eigentlich Verantwortung für die palästinensische Bevölkerung in diesem Konflikt trägt.

Bei wem liegt die Pflicht, die Menschen im Gazastreifen zu schützen?

Seit dem 7. Oktober 2023 herrscht Ausnahmezustand im Nahen Osten. Was mit dem erschütternden Angriff der Hamas auf Israel begann, zieht nun massive Gegenschläge Israels auf den Gazastreifen nach sich.

Erst vor wenigen Tagen hielt die Welt angesichts des Angriffs auf ein Krankenhaus in Gaza den Atem an. Die Zahl der Verstorbenen in Gaza seit Beginn der Eskalation stieg inzwischen auf mehr als 7.000 Menschen an (Stand: 26.10.2023). Währenddessen befinden sich rund 200 Geiseln, die die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober in ihre Gewalt brachte, weiter in Gefangenschaft der Miliz.

Die humanitäre Lage in dem von der islamistischen bewaffneten Miliz beherrschten Gazastreifen spitzt sich immer weiter zu, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten geht zur Neige.

Die Stimmen, die fordern, dass auch das Leid im Gazastreifen dringend zu einem Ende kommen muss, werden lauter. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres sprach anlässlich einer Sitzung des UN-Sicherheitsgremiums in New York von "klaren Verletzungen des Völkerrechts" im Gazastreifen.

Dieses Urteil bescherte ihm zwar eine Rücktrittsforderung seitens des ständigen Vertreters Israels, Gilad Erdan. Aber auch US-Außenminister Antony Blinken appellierte an Israel, alles zu tun, um zivile Opfer im Gazastreifen zu vermeiden. Er betonte erneut, dass Israel bei seinem Recht auf Selbstverteidigung Grenzen durch das Humanitäre Völkerrecht gesetzt seien.

Das trifft zu. Dennoch kann Israel als von der Hamas angegriffener Staat, der sich gegen die militante Hamas und ihre Terrortaten verteidigt, nicht gleichermaßen oberster Verantwortlicher für den Schutz der Zivilbevölkerung im Gazastreifen sein.

Es ist offensichtlich, dass angesichts der hochemotionalen aktuellen Situation für Israel die eigene, und nicht die palästinensische Bevölkerung oberste Priorität hat. Die Frage ist also, wer stattdessen die Verantwortung für die Bewohner Gazas trägt.

Die Menschen in Gaza, die auf eine lange Periode der Staatenlosigkeit zurückblicken, brauchen nun dringender denn je ein Staatsoberhaupt, das für ihren Schutz einsteht. Das die Schutzverantwortung übernimmt.

Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect oder R2P)

Das Konzept der Schutzverantwortung (auch Responsibility to Protect, kurz: R2P) wurde in den 1990er-Jahren als Reaktion auf den Völkermord in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien entwickelt.

Kernaussage des sogenannten R2P-Prinzips ist, dass jeder souveräne Staat eine Verantwortung für den Schutz seiner eigenen Bevölkerung trägt.

Der Schutz erstreckt sich in erster Linie darauf, die Menschen im eigenen Land vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewahren.

So geht es aus dem Abschlussdokument der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) aus dem September 2005 hervor. Im Jahr 2011 entschied sich der UN-Sicherheitsrat erstmals zu einem Eingreifen in die Souveränität eines Staates. Der Sicherheitsrat sah damals die Schutzverantwortung Libyens für dessen Zivilbevölkerung verletzt und entsandte Nato-Streitkräfte in das Gebiet.

Nun könnten die Gegenangriffe Israels, die der Verteidigung gegen die Angriffe der Hamas im Gazastreifen dienen sollen, in möglichen zukünftigen Untersuchungen durchaus als Kriegsverbrechen gewertet werden.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat einige der Folgen im Gazastreifen dokumentiert, die aus den militärischen Gegenschlägen Israels zwischen dem 7. Und dem 12. Oktober 2023 resultierten, und kam in ihrem Bericht zu ebendieser Einschätzung.

Unter den von der Organisation untersuchten Angriffsobjekten befanden sich unter anderem ein Flüchtlingscamp und ein Einkaufsmarkt in Gaza, einem der Angriffe fielen fast drei ganze Generationen einer Familie zum Opfer.

Die militärischen Angriffe auf den Gazastreifen zielten, so Amnesty in dem Bericht, entgegen der israelischen Aussagen auch auf ausschließlich nichtmilitärische Ziele.

Dabei treffe die heftige militärische Gewalt auf ein Gebiet, in dem durch die israelische Besetzung seit Jahren eine humanitäre Notlage herrsche.

Das Gesundheitssystem Gazas habe sich bereits vor den Angriffen kurz vor dem Kollaps befunden, und könne nun der schieren Zahl an Verwundeten und der Nachfrage nach lebensnotwendigen Medikamenten nicht standhalten.

Kriegsverbrechen bestünden, so Amnesty, insbesondere in den Angriffen auf Gebiete im Gazastreifen, bei denen das Leid der betroffenen Zivilbevölkerung evident außer Verhältnis zu dem erwarteten militärischen Vorteil stehe. Israel verstoße damit gegen das humanitäre Völkerrecht.

Legt man der Bewertung der aktuellen Lage in Gaza diese Einschätzung zugrunde, ist R2P auf die dortige Situation anwendbar.

Aber ohne Staat gibt es auch keine Schutzverantwortung, die dieser übernehmen könnte und müsste. Daraus ergibt sich die komplexe Folgefrage, zu welchem souveränen Staat die Bevölkerung in Gaza nun eigentlich gehört.

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