e-Islam: Geburt einer modernen muslimischen Umma?

Islam und Internet, Teil 1

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Können wir vom Aufkommen neuer Formen der virtuellen islamischen Gemeinschaft sprechen, ohne dass dies eine hohle Phrase ist ? Hat die Entwicklung neuer Techniken zur Informationsverbreitung, allen voran das Internet, auch die Konzepte darüber beeinflusst, was der Islam ist und wer welche Autorität besitzt, um darüber zu sprechen? Haben die neuen Informationstechnologien die Art und Weise verändert, wie sich Muslime die Grenzen ihrer Gemeinschaft, der Umma, vorstellen?

Schon im 19.Jahrhundert, schreibt Peter Mandaville, ein Politikprofessor an der Universität von Kent, sah sich die Umma, die Gemeinschaft der Muslime, mit einer revolutionären Neuerung konfrontiert: eine bislang unbekannte Flut von Schriftstücken, Büchern, Zeitungen und Pamphleten, die als Gegenreaktion auf den europäischen Imperialismus versuchte, eine breite literarische Basis für die Lehren des Islam zu schaffen.

Neue Koran-Interpreten

Allerdings mit dem Nebeneffekt, dass die Autorität der orthodoxen Hochburgen für die Vermittlung von religiösem Wissen bröckelte. Für Muslime wurde es leichter, traditionell abgesegnete und vorbestimmte Autoritäten auf der Suche nach dem wahren Islam außer acht zu lassen; es taten sich neue Möglichkeiten und Wege auf, sich frische, eigenständige Gedanken über die Religion zu machen.

Die religiösen Texte waren von nun an im Prinzip für beinahe jedermann erhältlich, der sie lesen konnte und sie zu lesen, so Mandaville, heißt natürlich sie zu interpretieren. Es entstanden also nicht nur neue Medien, sondern auch neue Leser.

In der neuen Informationstechnologie erkennt Mandaville, wie so viele andere auch, erneut eine revolutionäre Qualität in der Wissensvermittlung: neue Archivierungs-und Verbreitungsmöglichkeiten via CD-ROM beispielsweise, auf denen der ganze Koran, die Hadithe (normativ interpretierte Erzählungen aus dem Leben des Propheten) und essentielle Rechtsgrundlagen (fiqh) Platz haben; obwohl die Meinungen darüber divergieren.

Die IT arbeitet mit Wissen, das bereits fertig zubereitet ist; sie generiert keine neuen Urteile und Wertmaßstäbe

Abdul Kadir Barkatulla, Direktor des Londoner Islamic Computer Centre

Demgegenüber sieht der Leiter der Londoner "Bewegung für islamische Reformen in Arabien (Movement for Islamic Reform in Arabia)", Saad al-Faqih, in den neuen Technologien die Möglichkeit, dass der muslimische Laie mit einem elementaren Verständnis der islamischen Methodologie und einer CD-Rom die Wissenskluft zwischen ihm und den islamischen Gelehrten, den "alim", überbrücken könne: Die relevanten Texte lägen jetzt direkt vor seinen Fingerspitzen.

Ich bin keine Gelehrter, kein alim (Wissender); aber mit diesen "tools" kann ich mir alles zusammenstellen, das dem sehr nahe kommt, das die alim produzieren würden, wenn sie nach einer fatwa gefragt werden

Selbst die traditionell konservativen Hochburgen islamischer Gelehrsamkeit, wie etwa al-Azhar in Kairo und Qom in Iran, beteiligen sich - nach langjährigem Zögern - an der digitalisierten Aufbereitung des Islam. Da auch die Universitäten damit begonnen haben, moderne Informationssystem zu benutzen, bleibt den traditionellen Schulen nichts anderes übrig als mitzumachen, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Jenseits der Archivierung unterstützen die neuen Technologien auch den für die islamische Überlieferung so wichtigen Aspekt der "Oral history" - in diesem Zusammenhang sei auf die Rolle der Kassetten von Khomeinis spirituell-politischen Suaden hingewiesen, die im Vorfeld der islamischen Recolution in Iran eine wichtige Rolle spielten. Die Freitagspredigten berühmter muslimischer Denker wie Saiid Qutb, Ali Sharaiti, Abul Ali Maudu kursieren ebenfalls als Audio-Files im Netz; eine Londoner Oppositionsgruppe zur saudi-arabischen Machtelite stellt Predigten von Salman al Auda via streaming ins Internet.

New islamic Talk?

Für Mandaville ist einerseits evident: Im Internet passieren gegenwärtig die interessantesten Dinge in diesem Zusammenhang; aber es gilt zu unterscheiden, ob die Diaspora der muslimischen Gemeinschaft via Internet nur bereits existierende Botschaften und Ideen in einen neuen Kontext setzt oder ob sich hier eine neue muslimische Öffentlichkeit bildet, die neue Formulierungen, neue kritische Positionen und einen anderen Wissensstand hervorbringt.

New Talk has to be distinghuished from new people talking about old topics in new settings!

Für Mandaville gibt es tatsächlich eine neue Qualität der Diskussion über den Islam im Netz: Für die große Mehrheit der muslimischen Diaspora - gerade im Westen -, die sich online für den Islam interessiert, offeriere das Internet ein aufklärerisches Forum vor allem für politische Verhaltensregeln ("conduct of politics") innerhalb ihrer Religion.

Muslime könnten Religion dort in ihre eigenen Hände nehmen; über populäre Newsgroups, e-mail-Diskussionsforen könnten Muslime Informationen darüber, was der 'Islam' sagt zu jedem besonderen Problem beschaffen Und zwar mit Kommentaren, Anmerkungen, Korrekturen

Anstatt also zum örtlichen Mullah zu gehen, können Muslime jetzt autorisierte religiöse Meinungen zu politisch brisanten Themen via Internet abrufen. Zwar bleibt das Problem der Echtheit und Autorität des e-mullahs, gleichwohl bietet das Internet und die Chaträume neue Treffpunkte und Räume, wo die Diaspora-Muslime andere finden können, die so sind wie sie selbst. In diesem Sinne könne man, so Mandaville, davon sprechen dass das Internet eine neue Form einer virtuellen Gemeinschaft bilde, eine "reimagined umma".

Englischsprachige islamische Websites (z.B. Islam-online) stellen in der Auffassung Mandavilles ein "rückversicherndes Set an Symbolen und Terminologie" bereit, das versucht, gebräuchliche Settings und Redewendungen an Orten wiederherzustellen, zu "rekontextualisieren", die weit von ihrem Ursprungsort entfernt sind.

Das hat in der Folge zu beträchtlichen Interferenzen geführt und schließlich zu einem ständigen Dialog darüber, was es bedeutet islamisch zu sein. Die gängige Politik der Authentizität wird dadurch unterminiert, da die traditionellen Quellen von Autorität fragmentiert werden: der Ort des wahren und echten Islams und die Identität derer, der alleinvertretend für ihn sprechen können, ist zweideutig, vage, zweifelhaft geworden; damit, so der englische Politikprofessor, habe der Islam einen modernen, wenn nicht postmodernen (Bei)Klang bekommen.