Corona-Triage zu Weihnachten?

Zahl der gemeldeten Sars-CoV-2-Neuinfektion wie auch der Todesfälle auf neuem Rekordhoch. Dunkelziffer vermutlich auch

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Rund ein Jahr nach dem ersten registrierten Auftreten des neuartigen Corona-Virus Sars-CoV-2 und etwa elf Monate nach den ersten Warnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor der Pandemie werden hiesige Politiker und selbst mahnende, von manchem aufs Übelste als "Alarmisten" angefeindete Virologen noch immer von der Dynamik des Infektionsgeschehens überrascht und gelegentlich regelrecht überrollt.

Noch vor ein paar Tagen hatte der Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Universitätsklinik Charité, Christian Drosten, in seiner eher zögerlichen Art im NDR-Podcast einen "harten Lockdown" ab Weihnachten gefordert. Das wäre in 13 Tagen.

Doch nun zeigt sich, dass die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen weiter ansteigt. Knapp 30.000 waren es am Donnerstag. Außerdem wurden 602 Todesfälle gemeldet. Beides mit einigem Abstand neue Höchstwerte.

Nachdem sich die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen rund fünf Wochen zwar auf sehr hohem, aber stabilem Niveau gehalten hatte, wächst sie offensichtlich nun weiter an. Nur aus vier Ländern wurden am Donnerstag mehr Neuinfizierte gemeldet: aus den USA, aus Indien, Brasilien und aus der Türkei.

Zugleich wächst von Woche zu Woche die Zahl der Todesfälle. In der 46. Kalenderwoche sind 1.201 Menschen an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben, dann 1.586 in der Kalenderwoche 47; 2.147 in der Kalenderwoche 48 und letzte Woche, der 49. Kalenderwoche, waren es schließlich 2.684 – ein Wert, der mit ziemlicher Sicherheit diese Woche wiederum deutlich übertroffen werden wird.

Beunruhigend ist weiterhin, dass die Laborkapazitäten seit Wochen bis auf Anschlag ausgeschöpft sind, aber keine zusätzlichen geschaffen werden. Entsprechend wird trotz Zunahme der Verdachtsfälle nicht mehr getestet und die Positivrate steigt kontinuierlich.

In Berlin lag sie letzte Woche bereits bei 12,3 Prozent, bundesweit eher bei zehn Prozent. Im Sommer waren es meist um die ein Prozent oder gar weniger. Wenn viele Tests positiv ausfallen, kann daraus geschlossen werden, dass nicht alle Infizierten erfasst werden, die Dunkelziffer also hoch ist.

Dringender Appell der Intensiv- und Notfallmediziner

Kaum verwundern kann es da noch, dass die Intensivmediziner höchst besorgt sind. In einem dringenden Appell hat die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin (DIVI) am Freitag unverzügliches Handeln gefordert.

Jeder weitere Tag ohne durchgreifende und nachhaltige Lockdown-Maßnahmen koste Menschenleben. Selbst ein sofortiger Lockdown würde die Zahlen erst in zwei bis drei Wochen deutlichen sinken lassen.

"Ein Zögern und Warten auf Weihnachten ist schier unverantwortlich", so DIVI-Präsident Uwe Janssens, der zugleich Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital im nordrhein-westfälischen Eschweiler ist.

Janssens weiter: "Wenn wir die kommenden zwei Wochen jeden Tag im Schnitt 30.000 Neuinfektion haben, verzeichnen wir an Weihnachten etwa 420.000 Corona-Infizierte." Entsprechend würde die Zahl der Krankenhauspatienten weiter steigen. Insbesondere würde auch die Zahl der Schwersterkrankten, die eine intensivmedizinische Behandlung benötigen, einen Umfang annehmen, der eine angemessene Versorgung unmöglich mache.

Man bereite sich bereits auf "Priorisierungs-Situationen" vor. Soll heißen, die Ärzte wären in einem verstärkten Maße gezwungen, Patienten nach Überlebenschancen auszuwählen und Fälle mit wenig Hoffnung frühzeitiger als bisher aufzugeben. Diese werden dann für gewöhnlich nur noch mit schmerzlindernden Mitteln versorgt oder gar ganz abgewiesen. Ausgerechnet in der Weihnachtszeit könnte es in den Krankenhäusern also flächendeckend zur Triagierung von Covid-Patienten kommen.

Intensiv-Betten im Norden der Republik freihalten

"Die Belastungen auf den Intensivstationen haben ein Ausmaß angenommen, das nicht mehr lange von Pflegern und Ärzten gestemmt werden kann", so DIVI-Päsident Janssens: "Wir befürchten einen körperlichen und psychischen Kollaps der Mitarbeiter, die nun schon seit Wochen diesen Anforderungen ausgesetzt sind. Wir brauchen jetzt einen durchgreifenden Lockdown. Daran führt kein Weg vorbei!"

Janssens fordert außerdem ein einheitliches Vorgehen der Bundesländer. Auch der Norden müsse mitziehen, obwohl in den Küstenländern die Lage noch nicht so angespannt ist. Die dortigen Intensiv-Betten müssten freigehalten werden, damit Patienten aus Hotspots dorthin verlegt werden können.

Dabei geht es nicht nur um Corona-Patienten. Schon jetzt könnten in einigen Regionen wegen der starken Auslastung der Krankenhäuser lebenswichtige Operationen nicht schnell genug durchgeführt werden. Zum Teil gebe es daher schon jetzt sehr lange Transportwege für Notfallpatienten. Einzelne Kliniken mussten sich bereits von der Notfallversorgung abmelden.

Wer übrigens mal so richtig schlechte Laune bekommen will, kann einen Blick auf diese Webseite werfen. Dort bekommt die geneigte Leserin und der geneigte Leser einen Eindruck davon, wo überall in der Republik - in Corona-Zeiten - über die Schließung von Krankenhäusern diskutiert wird, die für die Betreiber in einer der Marktwirtschaft schutzlos ausgelieferten Gesundheitswirtschaft zum Minusgeschäft werden.