Das Märchen von der segensreichen Wirkung der Privatisierung
Ein Film spricht die Themen an, die in Deutschland auch im Vorwahlkampf kaum diskutiert werden
Wenige Wochen vor der Bundeswahl wird das Sommerloch mit Meldungen über die NSA-Abhöraffäre gefüllt. SPD und Grüne hoffen mit dem Thema doch noch in die Offensive zu kommen, in dem sie die nationale Karte spielen und die Bundesregierung als zu nachgiebig gegenüber den USA darstellen wollen.
Über die alltägliche Überwachung, der beispielsweise alle Hartz IV-Bezieher ausgesetzt ist, für die es kein Bankgeheimnis gibt, die ihre Reisepläne offenlegen müssen und im Verdachtsfall von Sozialdetektiven ausgeforscht werden können, hingegen ist nicht die Rede. Dabei hat diese Art der Überwachung sicherlich für die Betroffenen viel konkretere Auswirkungen als alle Ausspähversuche des Datenstaubsaugers NSA.
Das Verschweigen dieser alltäglichen Überwachung in Deutschland ist nur ein Beispiel dafür, dass zumindest zwischen den größeren Parteien - aller Rhetorik um Mindestlöhne und soziale Kälte zum Trotz - weitgehend Einigkeit darin besteht, dass alles, was der Wirtschaft nützt, gut für den Standort Deutschland ist und oberste Priorität hat.
Wie mit diesem Dogma seit mehr als einem Jahrzehnt der Sozialstaat demontiert wird, zeigt der Regisseur Ralph T. Niemeyer, Kandidat der Linkspartei, in seinem seit kurzem vollständig im Netz verfügbaren Film "Das Märchen der Deutschen" mit zahlreichen Interviews in 70 Minuten. Dass es der Film in keinen Fernsehsender geschafft hat, liegt sicher nicht nur an manchen handwerklichen Mängeln, die vor allem dem schmalen Budget geschuldet sein dürften.
Da der Film die wirtschaftsliberalen Mythen gnadenlos zerstört, die in fast allen Parteien trotz des häufigen Krisengeredes weiterhin hegemonial sind, findet eine solche Auseinandersetzung auch in öffentlich-rechtlichen Sendern keinen Platz. Dabei werden in dem Film die Themen behandelt, über die eigentlich in der Republik nicht nur im Vorwahlkampf gestritten werden müsste. Doch die Frage, warum auch die grüne und sozialdemokratische Opposition daran kein Interesse zeigt, beantwortet der Film gleich mit.
Diese Parteien haben die wesentlichen Weichenstellungen für die Deregulierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen mit veranlasst. Die Rolle des gegenwärtigen SPD-Kanzlerkandidaten als Minister der großen Koalition kommt dort ebenso zur Sprache, wie der Umbau des Sozialstaats unter Rot-Grün. Da fällt dem SPD-Politiker Walter Steinmeier nicht viel mehr ein, als vor einer Legendenbildung zu warnen, die er schon in den kritischen Fragen des Regisseurs erkennen will.
Anschlag auf die Rentenversicherung
Wenn Niemeyer dann mit der kürzlich geschassten Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann, mit Erwerbslosen aus Höxter und Berlin spricht, dann wird ein Ausschnitt der sozialen Realität in diesem Lande deutlich, der im Märchen vom boomenden Wirtschaftswunderland Deutschland nicht vorkommt.
Vieles, was Niemeyer in dem Film behandelt, hat man in den letzten Jahren so oder ähnlich auf den NachDenkSeiten gelesen, in dem die letzten Verteidiger des rheinischen Kapitalismus eine verzweifelte Abwehrschlacht gegen den Wirtschaftsliberalismus führen. Die Interviews, die Niemeyer im Film mit dem Mitbegründer der NachDenkSeiten Albrecht Müller und den ehemaligen christdemokratischen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm führte, gehören zweifellos zu den Höhepunkten.
Sie äußern sich zu einem zentralen Thema des Films, der Zerschlagung eines weitgehend solidarischen Rentensystems zugunsten der privaten Rentenversicherung. Müller geht auf die publizistische Vorarbeit ein, die nicht nur von Medien des Springerkonzerns mit den Schlagworten des demographischen Faktors geleistet wurde, um das bisherige Rentensystem als überholt und unbezahlbar zu diskreditieren. Über die gestiegene Produktivität wurde dabei nicht geredet. Erst auf dieser Basis konnte dann eine Politik relativ geräuschlos vollzogen werden, die Norbert Blüm als Anschlag auf die Rentenversicherung bezeichnet. Die einst als Zusatz angepriesenen privaten Rentenversicherungen wurden zur zentralen Säule des neuen System.
Abschied vom Ruhestand
Die Folgen sind bekannt: Altersarmut und Lohnarbeit bis fast ans Lebensende. Hier wäre ein Blick über den deutschen Tellerrand sinnvoll gelesen. So hat der Jenaer Soziologe Stephan Lessenich in einem Beitrag für Le Monde Diplomatique aufgezeigt, wie das Recht auf Rente erkämpft wurde und wie es mit dem Siegeszug des Wirtschaftsliberalismus europaweit wieder zur Disposition gestellt wurde:
"Sollte sich diese Tendenz zur materiellen Entsicherung der Lebensverhältnisse und zur neuerlichen 'Eingemeindung' der Rentner in die normativen Strukturen der Erwerbsgesellschaft fortsetzen, so wäre die Geschichte des Ruhestands eine ausgesprochen kurzlebige Epoche gewesen. In einer künftigen Sozialgeschichtsschreibung der europäischen Gesellschaften würde man die regulative Idee, die politische Semantik und die soziale Praxis des Ruhestands rückblickend als wohlfahrtsstaatliches Intermezzo deuten müssen - sozusagen als kurzen Sommer der Anarchie im Umgang der Arbeitsgesellschaft mit dem Alter."
Eine solche theoretische Grundierung würde man sich auch im Film manchmal wünschen. Zudem vertritt Niemeyer wohl die These, dass der Wirtschaftsliberalismus vor allem das Produkt einer bestimmten Politik war. Die ökonomischen Bedingungen, die ihn hervorbrachten, kommen kaum zur Sprache. So wird auch nicht die Frage gestellt, ob ein Anknüpfen an den rheinischen Kapitalismus heute überhaupt noch möglich und sinnvoll ist.
Trotz dieser Einwände ist der Film sehenswert. Schließlich entmystifiziert er manches deutsche Wirtschaftsmärchen und das ist die Grundlage, damit weitere Fragen überhaupt gestellt werden können. Dass in dem Film Demonstrationen gegen die dort beschriebene Entwicklung kaum vorkommen, ist den deutschen Verhältnissen geschuldet, wo auch die Rente mit 67 fast kampflos hingenommen wurde, während in Frankreich dagegen gestreikt wurde, wie in einem sehr anschaulichen französischen Film zu sehen ist.