EuGH lehnt Pflicht für humanitäre Visa für Flüchtlinge ab
Gericht tritt Gutachten von EuGH-Generalanwalt Mengozzi entgegen. Mehr als ein Dutzend EU-Staaten hatten sich zu Wort gemeldet
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am heutigen Dienstag die Klage einer fünfköpfigen syrischen Familie abgewiesen, die im Streit mit dem belgischen Staat auf dem juristischen Weg humanitäre Visa für die Europäische Union erzwingen wollte. Die EU-Mitgliedsstaaten seien nach europäischem Recht jedoch nicht dazu verpflichtet, Visa zur legalen Einreise von Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisenregionen auszustellen, heißt es in dem Urteilsspruch, der einer Einschätzung von EuGH-Generalanwalt Paolo Mengozzi widerspricht.
Dieser hatte vor wenigen Wochen in einem Aufsehen erregenden Gutachten die Meinung vertreten, EU-Staaten müssten verfolgten Menschen Visa ausstellen und ihnen einen legalen Weg zur Flucht vor Verfolgung ermöglichen.
Geklagt hatte ein Ehepaar mit drei kleinen Kindern aus dem syrischen Aleppo. Die Eltern – Anhänger des christlich-orthodoxen Glaubens – hatten mit der Gefahr von Verfolgung durch islamistische Terroristen argumentiert. Einer der Ehepartner gab an, von einer Terrorgruppe aus dem Lager der Anti-Assad-Rebellen entführt worden zu sein. Während der Verschleppung sei er gefoltert worden. Inzwischen ist Aleppo wieder in der Hand der Regierungstruppen.
EU-Politiker feierten das Urteil des EuGH. Monika Hohlmeier, die Sprecherin der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, schrieb: Die Ansicht des Generalanwaltes, den Ermessensspielraum der Mitgliedsstaaten bei der Ausstellung von Visa einschränken zu wollen, hätte das Vertrauen in Europäisches Recht erschüttert. Botschaften und Konsulate aller EU-Mitgliedsstaaten hätten mit einer Flut von Asylanträgen zurechtkommen müssen "und wären zu Asylbehörden zweckentfremdet worden", so Hohlmeier. Der belgische Staatssekretär Theo Francken verlieh seiner Begeisterung über den Kurznachrichtendienst Twitter knapper Ausdruck: "Jaaa! Gewonnen!"
"Trauriger Tag für den Flüchtlingsschutz
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl sprach hingegen von einem "traurigen Tag für den Flüchtlingsschutz und ein Feiertag für die Festungsbauer und die Schlepperindustrie". Pro Asyl dankte zugleich Mengozzi: "Der renommierte Jurist hat die Europäische Union daran erinnert, was die Essenz des europäischen Projektes einmal ausgemacht hat: Flüchtlingsschutz, Menschenwürde, das Recht auf Leben, das Verbot unmenschlicher Behandlung, das absolute Verbot der Folter und der Schutz des Kindeswohls."
Mengozzi hatte im Februar in seinem 45-seitigen Gutachten konstatiert, EU-Mitgliedstaaten seien verpflichtet, ein humanitäres Visum auszustellen, wenn die bestätigte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung drohe. Es sei dabei unerheblich, ob zwischen Antragsteller und dem Mitgliedstaat eine Verbindung bestehe.
Nach Mengozzis Einschätzung fiel der Antrag der syrischen Familie aus Aleppo in den Regelungsbereich des Visakodex' und damit des EU-Rechts. Sein zentrales Argument: Artikel 4 der EuropäischenGrundrechtecharta verbietet "Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung".
Das Gutachten des Juristen hatte zunächst die Position des EU-Parlaments gestärkt, das wiederholt humanitäre Visa gefordert hat. Weil diese Möglichkeit bislang nicht besteht, müssen Kriegsflüchtlinge aus Syrien gefährliche und oft tödliche Schlepperrouten nehmen. Dessen ungeachtet waren EU-Mitgliedsstaaten gegen das Gutachten Sturm gelaufen: Mehr als ein Dutzend Länder schickten eine Stellungnahme zu dem Verfahren, darunter auch Deutschland.