Ginseng, Joggen, Sodoku?
Was uns auch im neuen Jahr gesund hält. Und wovor wir uns in Acht nehmen sollten
Für viele wird 2011 ähnlich stressig werden wie 2010. Manchmal scheint es, als ob alles nur funktionieren kann, wenn sich alle gegenseitig ordentlich und dauerhaft unter Druck setzen. Es herrscht Unruhe, die fast die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Die Unfähigkeit, sich auf Dinge länger einzulassen und zu konzentrieren ist ein Phänomen unserer Zeit. Die menschliche Taktung, die schon durch die Industrialisierung einen gewaltigen Schub bekam, scheint den stampfenden Rhythmus der Maschinen verlassen und sich den Oszillationen der Prozessoren anpassen zu wollen. Das stößt uns natürlich an die Grenzen der Belastbarkeit.
Geteilte Aufmerksamkeit ist im Büro, aber auch in der Freizeit der Normalfall. Den Prozess der Zergliederung der Konzentration mit Hilfe von pharmazeutischen oder technischen Maßnahmen aufzuhalten, erscheint da naheliegend. Der Liberalismus hat Selbstverantwortung und Selbstgestaltung zu Leitbegriffen der Lebensführung erhoben. Die Logik des Systems lässt glauben, man täte das für sich, für die eigenen Interessen. Aber was ist, wenn der äußere Druck weithin unbemerkt so groß ist, mehr noch, sich im Inneren eingenistet hat und von dort aus, immer neu angeheizt durch Werbebotschaften und Sportnachrichten, subtil darauf wirkt, dass der Mensch zwischen Selbstgestaltung und Selbstausbeutung gar nicht mehr unterscheiden kann. Was ist, wenn hier nicht Disziplin das Thema ist, sondern Unterwerfung unter ein Leistungsdiktat?
Man kann attestieren, dass die heutige Leistungsgesellschaft Menschen geschaffen hat, die den Anspruch an sich haben, ihr Tageswerk mit blendender Laune zu versehen. Pharmazeutische und andere Techniken sollen dabei helfen. Dies vorweg geschickt seien einige, beliebig herausgegriffene Trends für 2011 aufgezeigt.
Die Diskussion um die Pillen für den klügeren Menschen ist auf dem Boden der neurologischen Tatsachen angekommen. Substanzen wie Ritalin oder Modafinil halten in erster Linie wach, Verbesserungen der Leistungsfähigkeit in einem kognitiven Sektor gehen meist mit einer Verschlechterung in einem anderen Sektor einher. Der gesunde Körper hält eine Balance, die nur schwer zu optimieren ist.
Es ist zu überlegen, ob das manische Kappen des Rausches aus dem Wirkungsspektrum von Medikamenten nicht eine der Ursachen dafür ist, dass hier kaum Fortschritte zu verzeichnen sind. Aber will man diesen Tipp wirklich weiter reichen? Der Rausch wird von vielen als Möglichkeit genutzt, den Auswüchsen der Leistungsgesellschaft zu entfliehen. Würde auch er nun noch zum Instrument der pharmazeutischen Industrie werden, um stromlinienförmig im Alltag zu agieren, blieben bald nur noch die städtischen Meditationszentren.
Die Öko-Welle könnte 2011 auch in den Bereich der geistigen Fitness einschwappen. Ginseng ist eine der am häufigsten eingesetzten Heilpflanzen der Welt und gilt gerade im asiatischen Raum als Tonikum zur Stärkung geistiger Fähigkeiten. Die unabhängige Cochrane Collaboration hat kürzlich in einer Meta-Analyse untersucht, ob die Studienlage dies belegt.
Man fand überhaupt nur neun doppelblinde, randomisierte und placebokontrollierte Studien zur Wirkung von Ginseng auf die kognitiven Fähigkeiten, von denen wiederum nur fünf den Ansprüchen der Cochrane genügten. Diese fünf Studien wurden an nur knapp 300 gesunden Testpersonen durchgeführt. Die gute Nachricht: Schwerwiegende Nebenwirkungen wurden nie beobachtet. Zudem deuten die Resultate auf einen schwachen, aber positiven Effekt auf das Arbeitsgedächtnis hin. Die schlechte Nachricht: Den Cochrane-Autoren reicht dies nicht aus, die Anwendung von Ginseng zu empfehlen.
Das Problem: Infolge unterschiedlicher Studiendauer, Dosierungen und Endpunkten ließen sich die Daten schlecht vergleichen. Maximal wurden die Effekte über 12 Wochen beobachtet, die positive Langzeitwirkung ist also unbewiesen. In der Praxis herrschen zudem enorme Qualitätsunterschiede bei Ginseng-Präparaten.
Bereits 1999 wurde in einer Übersicht 16 doppelblinde Studien geprüft. Schon damals ließ sich nicht nachweisen, dass Ginseng die körperliche oder geistige Leistungskraft relevant fördert.
Noch fehlt es an soliden Wissen darüber, was genau die Inhaltsstoffe von Ginseng im Körper anstellen. Messbare Merkmale, die auf einen normalen oder krankhaften Prozess im Körper hinweisen, fehlen bislang. Zudem fehlt es an international anerkannten Testbatterien, die die geistige Leistungsfähigkeit umfassend messen. Die bisherigen Studien mit pflanzlichen wie chemischen Hirnhelfern deuten darauf hin, dass eine Verbesserung in einem kognitiven Bereich meist eine Verschlechterung in einem anderen Bereich mit sich zieht.
Ob körperliche Bewegung, gemeinhin Sport genannt, nachhaltig dabei hilft, Auffassungsgabe, Kreativität oder gar Intelligenz zu fördern, ist ebenso umstritten. Regelmäßige Bewegung kann aber dabei helfen, die altersbedingte Abnahme der Merkfähigkeit zu verlangsamen.
Eine jüngst veröffentlichte Meta-Analyse von 15 Studien mit über 30.000 nicht-dementen Personen über 40 zeigt nach Ansicht der Forscher die Heilkraft der Aktivität.
Das Gehirn verändert sich Zeit seines Lebens. Mit welchen Mitteln soll man es trainieren? Die Frage sollte zukünftig eher heißen, zu welchen Zweck man es optimieren möchte. Es ist eben kein Zufall, dass Optimierung in diesem Zusammenhang fast nie die Förderungen sozialer Fähigkeiten meint.
Dem Profitstreben der Arzneimittelhersteller steht eine Gesellschaft zur Seite, in der die Anforderungen durch Beruf und Familie enorm zugenommen haben. Mithin wird das eigene Nervenkostüm als Feind aufgefasst, das den Geboten des Multitasking angepasst werden muss. Dem in die Karten spielt ein ungebrochener Wissenschaftsglaube, der suggeriert, dass zu jedem Zustand, mehr noch, zu jeder Befindlichkeit, ein Mittel existiert, das den Zustand noch steigert, eliminiert - oder zumindest dämpft.
Will der Mensch tatsächlich immer besser werden? Strebt er ständig nach Verbesserung? Die Antwort ist natürlich: Manche ja, manche nicht. Vielen Menschen dürfte es eher darum gehen, darauf hat Stephan Schleim hier richtig hingewiesen, mit ihrer vorhandenen Leistungsfähigkeit akzeptiert und geschätzt zu werden - als die Personen, die sie sind. Nicht jeder sieht die Welt als geistig-körperliches Fitnesscenter.
Logik der kognitiven und sonstigen Fitness-Techniken ist es, Lösungen auf Knopfdruck anzubieten. Dann sind zwei Phänomene nie weit, nämlich Selbstinstrumentalisierung, also die Tendenz, sich nur um des guten Funktionierens willens zu optimieren. Und Selbstverdinglichung, also die Tendenz, sich selbst als Maschine zu sehen. Dagegen kann helfen, sich des "Natürlichen" oder nennen wir es besser "Organischen", der Lebensführung als Richtwert zu erinnern. Ohne allzu philosophisch zu werden, krankt die Zeit nun wiederum daran, auch das Organische als mechanisch zu interpretieren. Mit dem Neuro-Hype hat sich durch Hintertür eine Frage eingeschlichen, die schon im letzten Jahrhundert im Rahmen der Künstlichen Intelligenz diskutiert wurde: Ist es zulässig, Sätze anzufangen mit: "Der Mensch ist nichts anderes als..."? Der späte Joseph Weizenbaum hat vor diesem Reduktionismus immer wieder gewarnt.
Aus dem Innen heraus zu wachsen und den Dingen Zeit zu geben, dürfte auch 2011 kein schlechter Anfang sein. Wer dann noch ahnt, dass Verzicht ein Wert an sich sein kann, der dürfte den Suggestionen der vermeintlichen Verbesserung seines Lebens durch pharmazeutische oder andere Technik nicht so leicht erliegen.