Gutachten zum Sonntag
Das Erzbistum München-Freising vertuschte Kindsmissbrauch durch das "besondere Erpressungspotenzial" sexuell tabuisierter Themen, "umfangreiche Aktenvernichtungsaktionen" und eine "katastrophale Aktenpflege"
In einem letzte Woche vorgestellten, aber nicht veröffentlichten 250 Seiten starken Gutachten kommt die Rechtsanwältin Marion Westpfahl, der im Auftrag der katholischen Kirche Missbrauchsfälle in Oberbayern untersuchen sollte, zu dem Ergebnis, dass unter anderem eine "katastrophale Aktenpflege" im Erzbistum München-Freising, dem von 1977 bis 1982 der jetzige Papst Josef Ratzinger vorstand, dafür verantwortlich ist, dass Verbrechen aus der Vergangenheit nur noch sehr bedingt ermittelt und aufgeklärt werden können. Darüber hinaus seien durch "umfangreiche Aktenvernichtungsaktionen" mögliche Beweisstücke und Indizien unwiederbringlich verloren. Zumindest Teile der Akten wurden der Einschätzung der Gutachterin nach offenbar absichtlich vernichtet, um Missbrauchsfälle zu vertuschen.
Trotzdem fand die Rechtsanwältin Hinweise auf mindestens 365 Missbrauchsfälle nach 1945. Allerdings geht Westpfahl, davon aus, dass dies nur die Spitze eines Eisbergs ist und die Dunkelziffer deutlich darüber liegt. Von 159 in den Akten verbliebenen "auffälligen" Priestern wurden 26 als Sexualstraftäter verurteilt, obwohl ein Missbrauch in deutlich mehr Fällen nachgewiesen wurde. Auch 96 Religionslehrer sind immer noch aktenkundig. Aus dieser Gruppe verurteilte man nur eine einzige Person. Andere körperliche Misshandlungen von Religionslehrern, die nach Ansicht der Gutachterin in 24 Fällen erwiesen sind, führten nicht zu gerichtlichen Konsequenzen.
Weiterhin geht aus den verbliebenen über 13.200 Akten und aus Gesprächen hervor, dass sich die Kirchenmitarbeiter in der Vergangenheit viele Gedanken um den Ruf ihrer Organisation, aber relativ wenige um die Schicksale der Missbrauchsopfer machten, was sich unter anderem an einer euphemismengeprägten Sprache zeige. Zudem, so Westpfahl, hätte die Kirche zur Vertuschung von Missbrauchsfällen auch gezielt sexuelle Tabus und ein "besonderes Erpressungspotenzial" solcher Themen genutzt.
Kardinal Reinhard Marx, der amtierende Erzbischof von München und Freising, zeigte sich in einer Pressemitteilung angesichts der Ergebnisse "schockiert" und sprach von der Untersuchungszeit als den "schlimmsten Monaten [s]eines Lebens". Nun, so Marx, bitte man "als Kirche um Vergebung für das, was Mitarbeiter der Kirche getan haben".