Human Rights Watch fordert staatliche Aufsicht für senegalesische Koranschulen

Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation werden zehntausende Kinder in solchen Einrichtungen wirtschaftlich ausgebeutet und schwer misshandelt

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Im Senegal steht der Ausdruck "Talib" (Koranschüler) anders als in Afghanistan nicht in erster Linie für terroristische Täter, sondern für Opfer körperlicher Gewalt. Diese Schlussfolgerung lässt sich zumindest aus dem letzte Woche veröffentlichen Bericht 'Off the Backs of the Children': Forced Begging and Other Abuses against Talibés in Senegal ziehen, in dem Human Rights Watch auf 114 Seiten darlegt, wie senegalesische Koranschüler im Alter zwischen vier und zwölf Jahren körperlich misshandelt und zum Betteln gezwungen werden.

Das dabei gesammelte Geld dürften sie nicht behalten, sondern müssen es wie in einem Dickens-Roman bei ihren Marabouts abgeben. So etwas ist seit 2005 nicht nur in Europa, sondern auch im Senegal verboten – allerdings wurde bisher kein Religionslehrer dafür zur Rechenschaft gezogen. Neben einer staatlichen Aufsicht für die Daaras, wie die Medressen auf Wolof heißen, fordert Human Rights Watch deshalb auch, dass die Personen, die sich solcher Rechtsverletzungen schuldig machen, "umgehend und entschlossen" bestraft werden.

Bisher beaufsichtigen die senegalesischen Behörden nur einige wenige staatlich geförderte Daaras, die neben dem Religionsunterricht auch eine reguläre Schulausbildung anbieten. Das Gros der Koranschulen bewegt sich dagegen jenseits jeder staatlicher Aufsicht. In einem wachsenden Teil dieses unregulierten Unterbringungsmarktes etablierten sich der Menschenrechtsorganisation zufolge Marabuts, "die an der Erziehung und Fürsorge der ihnen anvertrauten Kinder wenig Interesse haben" und stattdessen ihre Position dazu nutzen, sie wirtschaftlich auszubeuten.

Dies geschieht häufig dadurch, dass Religionslehrer eine Summe festsetzen, welche die Kinder täglich abliefern müssen. Schafft ein Junge dieses Pensum nicht, dann drohen ihm Prügel und andere körperliche Misshandlungen. Ein Elfjähriger, der in einer Daara in der Hauptstadt Dakar lebt, seit er sieben ist, erzählt in dem Bericht beispielsweise, dass er jedes Mal mit einem Elektrokabel geschlagen wurde, wenn er die geforderten 600 Kolonialfrancs nicht zusammenbekommen hatte.

Den Berechnungen der Menschenrechtsorganisation nach bringt es ein Marabut so auf Jahreseinnahmen zwischen umgerechnet 20.000 und 100.000 US-Dollar. Vielfach wird nur ein kleiner Teil des Erbettelten für Lebensmittel ausgegeben, weshalb zahlreiche Kinder unterernährt sind. Unter anderem deshalb laufen sie massenhaft aus den Koranschulen fort, wodurch diese einen beträchtlichen Beitrag zum Anstieg der Zahl der Straßenkinder leisten.

All das dokumentierten die Human-Rights-Watch-Mitarbeiter in insgesamt 175 Interviews mit ehemaligen und derzeitigen Koranschülern aus über 100 Daaras. Ergänzt wurden ihre Aussagen unter anderem durch Stellungnahmen von Eltern, Regierungsvertretern und Mitarbeitern humanitärer Organisationen. Allerdings kommen letztere in dem Bericht nicht besonders gut weg: Ihre Hilfsgelder, so der Vorwurf, flössen häufig direkt in die Taschen der Marabouts und Mißbrauch meldeten sie manchmal allein deshalb nicht, um ihre guten Beziehungen mit den Religionsunternehmern nicht zu gefährden.

Abhilfe schaffen könnte die senegalesische Regierung, die bisher freilich ebenfalls vor Maßnahmen gegen die einflussreichen Marabuts zurückscheut. Offenbar deshalb fordert das Papier auch die Organisation der Islamischen Konferenz auf, sich explizit gegen auf Bettelzwang und Prügel basierende Geschäftsmodelle auszusprechen, welche Human Rights Watch im Widerspruch zur Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam sieht.