"Ich weiß nicht mehr genau, wann ich vergewaltigt worden bin" – "Na, dann stimmt das schon ..."

Außer Kontrolle

Nach fast sieben Jahren wird ein wegen Vergewaltigung und Freiheitsberaubung verurteilter Mann entlastet. Die ihm zur Last gelegten Taten waren frei erfunden.

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Vergewaltigungen, gerade auch wenn sie erst viel später angezeigt werden, sind ein heikles Thema - sowohl in Bezug auf Diskussionen, als auch vor Gericht. Oft entspricht die Vergewaltigung nicht dem "Jemand hat mich hinterrücks überfallen und vergewaltigt und mich auch anderer Gewalt ausgesetzt, so dass ich weinend und blutend sofort zur Polizei gegangen bin"-Schema. Vielmehr gibt es häufig Fälle, in denen die Einvernehmlichkeit zunächst gegeben war oder angenommen wurde, Zeugen nicht vorhanden sind und in denen ob der verstrichenen Zeit keinerlei Beweise gesichert werden können. Dann gilt vor Gericht letztendlich, wem die Richter Glauben schenken.

Um in solchen Fällen die Glaubwürdigkeit der Beteiligten zu prüfen (bzw. zu erschüttern), wird das Vorleben der jeweiligen Personen durchleuchtet - nicht nur in Bezug auf Vorstrafen, sondern auch auf Reputation, Sexualverhalten und so weiter. Das Wissen darum führt manchmal schon im Vorfeld zur Entscheidung, solche Straftaten nicht anzuzeigen.

Wie bei allen Straftaten ist letztendlich niemand davor gefeit, durch eine Falschaussage eines Menschen nicht nur in vorübergehende Schwierigkeiten zu kommen. Eine solche Situation ergab sich für Thomas E., der im Juli 2002 zu sechs Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde. Zur Last gelegt wurden ihm die zweifache Vergewaltigung seiner Exfreundin sowie Freiheitsberaubung. Diese Exfreundin, Claudia K., war im Dezember 2001 zur Polizei gegangen. Thomas E., so gab Claudia K. damals an, hätte sie 1997 und 2001 vergewaltigt. 1997 habe er sie außerdem zwei Stunden lang an ein Heizungsrohr gekettet.

Hier ergab sich das obige Problem, dass es keinerlei Zeugen gab und die Taten schon länger zurücklagen. Das Gericht schenkte Claudia K. Glauben und verurteilte Thomas E., für den sich damit eine Dilemmasituation ergab, in die alle unschuldig Verurteilten geraten: Hafterleichterungen oder gar frühzeitige Entlassung sind unmöglich, wenn nicht eine Auseinandersetzung mit der begangenen Tat erfolgt. Kurz gesagt: Jemand muss erst ein falsches Geständnis ablegen, um eine Chance zu haben, frühzeitig aus der Haft entlassen zu werden, die ihm für eine Tat auferlegt wurde, die er nicht begangen hat. Eine, dezent ausgedrückt, verfahrene Situation.

Die Revision, die Thomas E. beim Bundesgerichtshof einlegte, brachte ihm zwar eine Erleichterung: Die Haftstrafe wegen der Freiheitsberaubung wurde gestrichen. Doch es blieben die zwei Vergewaltigungen, die er begangen haben soll – was zu eben jenen sechs Jahren und 8 Monaten Haft führte.

Vage Zeitangaben sprechen für Wahrheitsliebe

Die Gründe, warum das Gericht Claudia K. Glauben schenkte, lassen insbesondere hinsichtlich der Tatangaben aufhorchen: So war gerade die Tatsache, dass Claudia K. nicht mehr genau wusste, wann die vermeintlichen Straftaten 1997 stattgefunden hatten, ein Grund dafür, von der Richtigkeit der Angaben auszugehen. Bei falschen Anschuldigungen, so das Gericht sinngemäß, wäre davon auszugehen gewesen, dass Claudia K.s Geschichte auch mit präzisen Zeitangaben ausgestattet gewesen wäre. Im Urteil heißt es dazu wörtlich:

"Die Unsicherheit über die zeitliche Reihenfolge hält die Kammer nicht für ein Bedenken gegen die Richtigkeit der Aussage. (…) Hätte nämlich die Zeugin eine erfundene Geschichte mitteilen wollen, hätte sie sich auch in zeitlicher Hinsicht festgelegt (…). Das abwägige Verhalten der Aussage, sie wisse es nicht genau, spricht für ihre Wahrheitsliebe."

Ein Glaubwürdigkeitsgutachten, welches Thomas E. beantragte, wurde abgelehnt. Man sei, so die zuständige Kammer, durchaus selbst in der Lage, die Glaubwürdigkeit zu überprüfen.

Dabei wäre es durchaus sinnvoll gewesen, bei den Familienverhältnissen, die im Nachhinein als "desaströs" bezeichnet werden, genauer hinzuschauen: Die gemeinsame Tochter, die stets an die Unschuld ihres Vaters geglaubt hatte, sprach von einem gewalttätigen neuen Freund der Mutter, der außerdem Drogen nahm.

Nachdem Thomas E. die gesamte Haft abgesessen hatte, konnte er zu seiner Tochter wieder einen verstärkten Kontakt aufbauen. Dieser hatte er stets gesagt: "Ich habe nichts getan."

Im Juni 2010 gestand Claudia K. ihrer Tochter, dass sie die vermeintlichen Straftaten bloß erfunden hatte. Sie hätte, so Claudia K., ihren ehemaligen Freund loswerden wollen und gemeinsam mit ihrem Freund David K. beschlossen, Thomas E. falscher Straftaten zu bezichtigen. Hintergrund der gesamten Geschichte war die Tatsache, dass sich Thomas E. nicht mit einem Kontaktverbot zur gemeinsamen Tochter abfinden wollte, welches Claudia K. verhängt hatte.

Thomas E., der von diesem Geständnis erfuhr, ließ seinen Anwalt noch einmal nachhaken und Claudia K. zeigte sich weiterhin geständig: Sie wisse, dass sie sich strafbar gemacht habe und müsse dazu jetzt stehen, so ihre Aussage.

Fast vier Jahre später verurteilte das Landgericht Dortmund Claudia K. wegen mittelbarer Freiheitsberaubung zu drei Jahren und vier Monaten – exakt 50% der Haftdauer, zu der Thomas E. verurteilt worden war. David K. konnte nicht nachgewiesen werden, dass er an dem Komplott beteiligt war, er blieb daher strafrechtlich unbehelligt. Claudia K. wurde auch der Anspruch auf monatlich 122 Euro gestrichen, der ihr nach dem Opferentschädigungsgesetz zugesprochen wurde. Ob und wann sie die vorher kassierten Geld zurückzahlen kann und wird, bleibt offen.

Thomas E. versucht nun, einerseits Haftentschädigung, andererseits aber auch eine Aufhebung des alten Urteils zu erreichen. Denn durch die Verurteilung gilt er als "charakterschwach", was z.B. hinsichtlich Wohnungssuche, Führerscheinwiedererlangung usw. problematisch ist. Eine Verurteilung, auch wenn sie im Nachhinein für falsch erklärt wird, wirkt sich für den Verurteilten auf viele Bereiche des Lebens aus. Und auch die Haftentschädigung, um die die fälschlicherweise Verurteilten oft lange Zeit streiten müssen, liegt in Deutschland in einem sehr niedrigen Bereich. Erst seit ca. 5 Jahren gibt es pro Hafttag 25 Euro, vorher waren es lediglich 11 Euro. Bei einer Haftstrafe von sechs Jahren und 8 Monaten sind das ca. 61.000 Euro, mit denen ein Haftopfer dann rechnen kann – pro Jahr gerade einmal etwa 9100 Euro.

Der Fall erinnert an den Fall Horst Arnold, bei dem letztendlich auch ein Justizirrtum zu einer langjährigen Haftstrafe führte. Gerade bei Horst Arnold zeigte sich auch, wie lange es dauert, bis letztendlich ein unschuldig Verurteilter auf die ohnehin magere Entschädigung (bzw. auf das Wiederaufnahmeverfahren) warten muss. Ganze drei Jahre vergingen im Fall Arnold. Der Freispruch erfolgte erst 2011. Geld gab es bis dahin keines. Gerade durch diese Vorgehensweisen zeigt der Staat, wie sehr er sich um Opfer von Justizirrtümern kümmert – eben sehr wenig. Haftentschädigung muss erst zäh erstritten werden und die Opfer der Justizirrtümer müssen aufwendig Beweise dazu sammeln, was sie ggf. hätten verdienen können.

Die Fälle Horst Arnold und Thomas E. zeigen nicht, dass Richter und Staatsanwälte stets schlampig arbeiten - doch sie machen deutlich, dass diejenigen, die dies an Gerichten tun, praktisch keine negativen Konsequenzen erwarten müssen. Die zerstörten Leben, die sie verursachen, lassen sich ohnehin nicht wieder reparieren. Deshalb stellt sich die Frage, inwiefern hier manchen die Verantwortung, die man ihnen zugesteht, ggf. gar nicht bewusst ist. Gerade bei Straftaten, bei denen "Aussage gegen Aussage" steht.

Es wird letztendlich wieder einmal Aufgabe der "Zivilgesellschaft" sein, durch stete Überzeugungsarbeit dafür zu streiten, dass Opfer von Justizirrtümern schneller und besser entschädigt werden - und dass sich ihre Zahl verringert. Doch vielfach werden diese gar nicht wahrgenommen oder gelten als vernachlässigbare Opfer eines Rechtstaates. Wenn aber Staatsanwälte, Anwälte oder Richter fahrlässig mit dem Leben von Menschen umgehen, dann sind sie leider auf dem Wege, so wie jene zu werden, die sie doch verurteilen sollen.