ÖPNV-Nulltarif: Geld ist nicht das Problem
Bundesregierung hatte ihren Vorschlag offensichtlich nicht besonders ernst gemeint, aber der Geist ist aus der Flasche
Die Bundesregierung schlägt, wie berichtet, den Null-Tarif im Nahverkehr vor. Genauer, sie will es in einigen kleineren Städten wie Bonn testen. Offen bleibt allerdings, ob die Noch-und-vielleicht-bald-wieder-Regierungskoalition auch bereit ist, dafür aus dem Bundeshaushalt dauerhaft Zuschüsse zur Verfügung zu stellen.
Bonns Oberbürgermeister Ashok Sridharan (CDU) weist allerdings darauf hin, dass die einstige westdeutsche Hauptstadt in einem Verkehrsverbund mit Köln und dem Umland steckt und daher gar nicht den Null-Tarif in Eigenregie einführen kann. Wie andere zuvor merkt er an, dass ein solcher Schritt mehr Busse und Bahnen voraus setzt.
Das Netz müsse ausgebaut werden, weshalb es sich bei dem Vorschlag der Bundesregierung um eine mittel- und langfristige Lösung handele. Das heißt zum einen, dass zusätzliches Kapital nötig wäre. Zum anderen kommt damit der Null-Tarif als kurzfristige Maßnahme gegen zu hohe Stickoxidbelastungen nicht in Frage.
Solche werden allerdings von der EU-Kommission gefordert, weil in vielen deutschen Städten seit Jahren die gesetzlichen Grenzwerte für Stickoxide in der Luft überschritten werden.
Steffen Seibert spricht von Überlegungen
Aber all zu so ernst scheint das Ganze seitens der Bundesregierung ohnehin nicht gemeint zu sein. Die Welt zitiert Regierungssprecher Steffen Seibert, der von "Überlegungen (spreche), ob man in den Kommunen zeitweilig ÖPNV gratis anbietet, um damit erste Erfahrungen zu sammeln". Nach einem nachhaltigen Konzept klingt das nicht.
Dass auf jeden Fall Zuschüsse vom Land oder Bund notwendig sind, zeigt das Beispiel des Städtchen Templin im nördlichen Brandenburg, über das die Süddeutsche Zeitung berichtet. Dort war der ÖPNV von 1997 bis 2003 kostenlos nutzbar. Die Fahrgastzahlen vervierfachten sich annähernd, bis die Stadt sich schließlich keine neuen Busse und zusätzlichen Fahrer mehr leisten konnte. Schließlich wurde eine "Kurkarte" für 44 Euro eingeführt, die als Jahresticket gilt.
Man kann sich leicht vorstellen, dass in den Großstädten, wo U- und S-Bahnen sowie die Busse ohnehin bereits gut genutzt werden, der Ausbau besonders beschleunigt und bezuschusst werden müsste. Mit temporären Lösungen und Versuchsprojekten in einigen wenigen Pilotprojekten in Mittelstädten, wie jetzt von der Bundesregierung geplant – im Gespräch sind neben Bonn Essen, Herrenberg, Reutlingen und Mannheim –, wird man da nicht besonders weit kommen.
Entsprechend schwanken die Reaktionen bei Umweltpolitikern zwischen Skepsis und positiver Aufnahme. Der Deutsche Naturschutzring (DNR) begrüßt, dass eine Diskussion angestoßen wurde und fordert, dass zur Finanzierung "umweltschädliche Subventionen" gestrichen werden.
Dem DNR zufolge kostet der ÖPNV jährlich 12 Milliarden Euro, wovon sechs Milliarden durch Ticketverkäufe wieder herein kämen. (Offensichtlich sind die vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen genannten 12 Milliarden nicht, wie gestern irrtümlich geschrieben, der zusätzliche Finanzbedarf, sondern die Gesamtkosten des ÖPNV.)
Würden die immer noch gewährten Subventionen für Dieselkraftstoffe gestrichen, so der Verband, könnten sieben Milliarden Euro eingespart werden. Weitere fünf Milliarden Euro könnten nach den Vorstellungen des DNR in die öffentlichen Kassen fließen, würde die Pendlerpauschale abgeschafft. (Wäre der ÖPNV für die Nutzer kostenlos, würde die Pauschale noch stärtker als bisher als Anreiz zum Autofahren wirken.) Am Geld liegt es also nicht, dass der ticketfreie ÖPNV nicht längst eingeführt ist.
17 Milliarden Euro jährlich
Nachtrag: Ein Leser weist zu recht darauf hin, dass die vom DNR erwähnten sechs Milliarden Euro sehr niedrig erscheinen. Das Bundesamt für Statistik spricht für 2016 von ÖPNV-Einnahmen aus der Fahrgastbeförderung (Eisenbahnen, Straßenbahnen und Omnibusse) in Höhe von 17,5 Milliarden Euro netto.
Darin enthalten sind auch Ausgleichszahlungen der öffentlichen Hand für die Beförderung von Schülern, Auszubildenden und anderen Bevölkerungsgruppen mit Anspruch auf Ermäßigungen. Diese dürften unter einer Milliarde Euro jährlich liegen.
Der im gestrigen Beitrag erwähnte Betrag von 12 Milliarden Euro jährlich bezog sich offensichtlich nur auf die Mitgliedsunternehmen des zitierten Verbandes der Verkehrsunternehmen.
Fazit: Im Falle der flächendeckenden Einführung eines ticketfreien Nahverkehrs müsste zunächst von der öffentlichen Hand eine unbezifferte Summe in den Ausbau der Infrastruktur gesteckt werden und so dann jährlich mindestens 17 Milliarden in den laufenden Betrieb. Dieser Betrag wird voraussichtlich höher ausfallen, da auch mehr Personal eingestellt werden muss. Zu weiteren möglichen Finanzierungsquellen siehe den gestrigen Beitrag.