Portugal blutet weiter aus
Immer mehr Pflegepersonal und Ärzte verlassen das südwesteuropäische Land
Das portugiesische Gesundheitssystem steckt in einer tiefen Krise. Schon die massive Beteiligung an einem 48-stündigen Streik von Ärzten und Pflegepersonal in dieser Woche hat das deutlich gemacht. Den Brain Drain im Gesundheitswesen Portugals hat nun die Pflegekammer mit Zahlen belegt. Die für die Registrierung in Pflegeberufen zuständige Institution hat mitgeteilt, dass täglich zehn Krankenpfleger bei der Ordem dos Enfermeiros (OE) die nötigen Papiere beantragten, um im europäischen Ausland arbeiten zu können.
Nach Angaben der OE haben 2009 schon 609 Pfleger die nötigen Bescheinigungen beantragt. Die Zahl der Anträge steigt seither steil an. 2010 waren es 1030 Anträge und 2011 schon 1724. Die Kammer schätzt, dass diese Zahl im laufenden Jahr schon überschritten wurde. In einem Schreiben hat die Pflegekammer erklärt, man verstehe, "dass viele Pflegekräfte im Ausland nach einer Möglichkeit suchen, ihren Beruf ausüben". Die OE kritisiert die konservative Regierung für ihre Sparpolitik, die dazu führe, dass Portugal Fachkräfte exportiert, die im eigenen Land gebraucht würden. Geschätzt wird, dass im Land bis zu 15.000 Pflegekräfte fehlen. Bisher gehörten Spanien, Großbritannien, Schweiz und Frankreich zu den Ländern, in die besonders oft abgewandert werde.
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch die Ärztekammer. Die Ordem dos Médicos (OM) stellt fest, dass auch immer mehr Ärzte das Land verließen, weil sie in Portugal nicht einmal mehr minimale Arbeitsbedingungen vorfänden. Im Ausland würde Ärzten dagegen "attraktive Bedingungen und Perspektiven für den beruflichen Aufstieg geboten", sagte Präsident der Ärztekammer. Auch José Manuel Silva macht dafür die Kürzungen im staatlichen Gesundheitswesen verantwortlich. Vor allem junge Ärzte fänden deshalb keine Jobs mehr. Dass einige EU-Länder in Portugal aktiv Mediziner anwerben, spreche für die gute Ausbildung der Ärzte im Land. Der Verlust von Fachkräften komme das Land "sehr teuer zu stehen", warnt er. Man bilde über 12 Jahre Spezialisten aus, "die wegen der Zerstörung des Gesundheitssystems durch diese Regierung dazu gezwungen sind, ins Ausland zu gehen", kritisiert Silva.
Dass viele Ärzte und Pfleger diese Analyse teilen, haben sie am Mittwoch und am Donnerstag gezeigt. Vor allem am zweiten Streiktag sollen fast 95 Prozent der Ärzte und des Pflegepersonals gestreikt haben. In den Krankenhäusern und Gesundheitszentren gab es meist nur einen Notdienst. Die Gewerkschaften sprachen vom stärksten Protest seit dem jüngsten Generalstreik im März. Der Sprecher der Ärztegewerkschaft ( SIM) betonte, dass man von der Bevölkerung unterstützt werde. Jorge Roque da Cunha sagte, die Menschen hätten verstanden, "dass wir für ihre Interessen kämpfen".
Die SIM beklagt, viele Menschen könnten sich den Gang zum Arzt oder ins Gesundheitszentrum nicht mehr leisten. Seit Januar wird beim Hausarzt eine Gebühr von fünf Euro fällig . Wird nur ein Rezept abgeholt, sind es noch vier Euro. Bei einem gekürzten Mindestlohn von 485 Euro und die durch die Anhebung der Mehrwertsteuer auf 23 Prozent stark gestiegenen Lebenshaltungskosten ist das für viele Familien viel Geld. Der Besuch einer Notaufnahme ist mit 20 Euro für viele unerschwinglich. Werden kompliziertere Untersuchungen nötig, kann der Betrag sogar auf 50 Euro ansteigen ( fällig Wenn Krankheit zum Luxus wird).
Zum Streik kam es aber jetzt, weil die Regierung unter Pedro Passos Coelho nun über private Zeitarbeitsfirmen Ärzte und Pflegepersonal im staatlichen Gesundheitssystem stundenweise beschäftigen will. Luís Januário, Leiter der Notaufnahme im Krankenhaus von Coimbra, fühlt sich die Zeiten erinnert, als Tagelöhner auf den Plätzen der Städte und Dörfer darauf warten mussten, von einem Großgrundbesitzer für die Landwirtschaft angeheuert zu werden.
Weitere Sparmaßnahmen auch im Gesundheitssystem drohen
Da die Regierung schon angedeutet hat, das geplante Haushaltsdefizit von 4,5 Prozent 2012 kaum einhalten zu können, wird erwartet, dass neue Einschnitte auch im Gesundheitssystem drohen. Lissabon will mit Brüssel aber auch die Konditionen für die Nothilfe im Umfang von 78 Milliarden Euro neu verhandeln, nachdem nun Spanien bessere Bedingungen eingeräumt wurden. Statt 4,4 Prozent darf das Defizit beim Nachbar 6,3 Prozent betragen. Spanien erhält auch bis 2014 ein Jahr mehr Zeit, um wieder die Stabilitätsgrenze von drei Prozent einzuhalten.
Dass Portugal 2012 sein Defizitziel erfüllt, ist illusorisch. Schon im ersten Quartal wurde ein Defizit von 7,9 Prozent registriert. Woher die Einnahmen, angesichts einer Rezession und einem schwächelnden Tourismus kommen sollen, um es bis zum Jahresende auf 4,5 zu drücken, weiß auch Coelho nicht. Auch im vergangenen Jahr gelang es nur mit einem Griff in die Trickkiste, die Brüsseler Vorgaben zu erfüllen. Dazu kommen weitere Ausgaben. Letzte Woche hat das Verfassungsgericht die Kürzungen und Streichungen des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes im öffentlichen Dienst und bei Rentnern gekippt, weil das Gebot der Gleichbehandlung missachtet werde.
Das Urteil ist aber in sich widersprüchlich. Das Gericht segnet den Verfassungsbruch sogar ab, denn Nachzahlungen muss die Regierung nicht leisten. Im "höheren Interesse" wurde sogar akzeptiert, dass die Gleichbehandlung bis zum Jahresende andauern darf. Erst für 2013 muss die Regierung Wege finden, um die zwei Milliarden Euro aufzubringen oder einzusparen. Der Regierungschef hat schon eine grandiose Idee in den Raum gestellt. Um die Gleichbehandlung sicher zu stellen, denken die Konservativen darüber nach, das Gesetz auch auf die Privatwirtschaft auszuweiten. Ob das allerdings mit Tarifautonomie vereinbar ist, ist fraglich. Doch Coelho kann ja damit rechnen, dass auch im Fall dieser Verfassungswidrigkeit das Gericht bestenfalls ein Urteil für die Zukunft fällen würde.