Salafisten gegen Persepolis, Teil 2
Tunesien: Demonstrationen gegen den TV-Sender, der die Ausstrahlung des Zeichentrickfilms wiederholte, eskalieren; auch das Haus des Senderchefs wurde angegriffen
Schon vergangenes Wochenende kam es zu Tumulten, weil der tunesische Privatsender Nessma TV den Zeichentrickfilm "Persepolis" ausstrahlte. Geschätzte dreihundert Demonstranten, die sich davon in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlten, gingen auf die Straße. Nach Angaben des tunesischen Innenministriums und des TV-Senders hatten sie vor, den Sender zu attackieren. Drohungen der aufgebrachten Demonstranten und solche, die im Internet zu lesen waren, ließen Berichten zufolge befürchten, dass das Sendergebäude in Brand gesteckt werden sollte. Hundert Demonstranten wurden verhaftet, die Partei Ennahda, die bedeutendste politische Vertretung der Islamisten, distanzierte sich von den gewaltbereiten Demonstranten. Salafisten sollen den Kern der Proteste gebildet haben, hieß es am vergangenen Sonntag ( Zeichentrickfilm erbost Salafisten). .
Nessma TV kündigte eine wiederholte Ausstrahlung von Persepolis an und löste diese Ankündigung ein. Das führte am gestrigen Freitag nach den Gebeten zu erneuten Demonstrationen an mehreren Orten in Tunesien, nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in Monastir, Béja und Sidi Bouzid. Laut Schilderung der tunesischen Website Kapitalis verliefen die Demonstrationen zunächst friedlicher als erwartet - auf tunesischen Internetseiten hatte sich die Erregung mit "Tausenden von Aufrufen" hochgeschaukelt.
Einzig am Kasbah-Platz in Tunis - Anfang des Jahres bekannt geworden als Zentrum des Aufstandes gegen Ben Ali in der Hauptstadt - seien Steine geworfen worden, so das Innenministerium. Die Polizei hatte sich in Erwartung der Demonstrationen positioniert. Als Teilnehmer der Demonstrationen werden im Kapitalis-Bericht "Bärtige und Verschleierte", aber auch Studenten und Beamten in "städtischer Kleidung" geschildert.
Laut Le Monde eskalierte die größte Demonstration am Kasbah-Platz (wo auch die Regierung ihren Sitz hat):
"Nachdem die Frauen zur Seite geschickt worden sind, hat sich der harte Kern, zusammengesetzt vornehmlich aus bärtigen Männer in traditioneller Kleidung, den Polizeibarrikaden genähert, mit Fahnen der salafistischen Partei und unter lauten Rufen, die gegen Nessma TV gerichtet waren. Die Polizei setzte Tränengas ein. Der Angriff wiederholte sich."
Es blieb nicht bei Rufen gegen den Fernsehsender. Nach Angaben der Senderleitung, die vom Innenministerium bestätigt werden, griffen am Abend geschätzte hundert Salafisten das Privathaus des Senderchefs in einer Vorstadt Tunis an und versuchten, es zu verwüsten und in Brand zu setzen. Die Familie des Senderchefs konnte, wie es heißt, in allerletzter Sekunde durch den Hinterausgang fliehen.
Menschenrechtsvertreter, feministische Aktivisten und andere zivilgesellschaftliche Vereinigungen weisen laut Le Monde auf eine "Doppelzüngigkeit" der Partei Ennahda hin, deren Führung sich zwar öffentlich von der Gewalt distanziere, aber "unter der Hand" die Salafisten ideologisch unterstütze.
: Ein Beitrag des Portals Nawaat de Tunisie, das während der Revolution im Frühjahr als wichtiges, unabhängiges Informationsportal fungierte und ein Forum für Berichterstattung von Bloggern bot, die einen sehr viel umfangreicheren Einblick in die Vorgänge des Landes gewährten als herkömmliche Medien (von den tunesischen ganz zu schweigen), weist darauf hin, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die den Ausschreitungen der Salafisten gerade zukommt, das Bild des Landes auf eine Art verzerrt, die der alten Garde der früheren Ben Ali-Partei RCD politisch sehr zupass kommt.
"Die Dinge sind viel komplizierter (als Tunesien in aktuellen Berichten über die Persepolis-Affäre aufscheint, Einf. d.A.). Tunesien ist mehrheitlich weder laizistisch noch progressiv und auch nicht plötzlich von Salafisten und Vollverschleierten überschwemmt. Die Minderheiten sind jetzt weitaus besser sichtbar und sie sind dazu entschlossen, sich auszudrücken, sich zu zeigen und den Platz zu beanspruchen, den man ihnen zugesprochen hat. Was also wäre normaler, als dass man jetzt die Bärtigen und die Konservativen jedesmal aufs Neue auftauchen sieht, wenn sich ihnen die Gelegenheit bietet, als "Hüter des Buches" und seiner heiligen Regeln. Sie gehen ganz in ihrer Rolle auf, so wie auch die, die ihre eigenen, anderen Überzeugungen vertreten."