Schwerer Schlag gegen Verbraucherschutz in Europa
Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs will Verbrauchern illegal bezahlte Zinsen mit Blick auf die Schieflage von Banken nicht zurückerstatten
Dass das Vertrauen in Europa und seine Institutionen schwer erschüttert ist, hat schon die Brexit-Entscheidung in Großbritannien sehr deutlich gemacht. Doch nun kommt eine Hiobsbotschaft für alle europäischen Verbraucher vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, die das Misstrauen gegen europäische Institutionen noch vergrößern dürfte. Denn dort vertritt Generalanwalt Paolo Mengozzi die Auffassung, dass Banken Zinsen nicht an Verbraucher zurückzahlen müssen, die sie illegal über Jahre für Hypothekenkredite eingenommen haben.
Mengozzi hat mit "makroökonomischen Auswirkungen" argumentiert und ist damit der Auffassung der Banken gefolgt. Also befürchtet er, angeschlagene Banken könnten erneut in Schieflage geraten. Nun wird also offenbar auch am EuGH offenbar Bankenrettung über Verbraucherrechte gestellt.
Konkret geht es um Vorgänge in Spanien, das allerdings nur als Beispiel für eine allgemeine Rechtsauffassung für Europa steht und letztlich bedeutet, dass der Betrug nur umfangreich genug sein muss, um konsequenzlos zu bleiben. Die Zahlen gehen weit auseinander. Auf drei Milliarden Euro hatte die US-Investmentbank Goldman Sachs die Gesamtsumme beziffert, um die es für die Banken gehen soll. Allerdings hatte im Verfahren die Großbank BBVA von 7,5 Milliarden Euro gesprochen, die nach Ansicht von Experten die Bank ist, die am stärksten betroffen wäre.
Ohnehin bestreitet niemand, auch der Generalanwalt nicht, dass viele Verbraucher gegen geltendes Recht zu hohe Zinsen bezahlt haben. Das hatte schon der Oberste Spanische Gerichthof 2013 in Madrid entschieden, der damit einen Milliardenbetrug an Verbrauchern scheinbar beendet hatte. Allerdings hatte der Madrider Gerichtshof die Banken tatsächlich nur dazu verurteilt, überhöhte Zinsen erst ab der Urteilsverkündung zurückerstatten zu müssen und nicht schon ab 2009.
Man muss sich das heruntergebrochen so vorstellen, dass zum Beispiel eine Wohnungsbaugesellschaft über vier Jahre zu hohe Mieten vom Konto abbucht. Mieter klagen dagegen und bekommen sogar grundsätzlich recht. Doch in der schriftlichen Urteilsbegründung steht dann, dass sie erst ab dem Urteil wieder die korrekte Miete bezahlen und dass sie ersta ab diesem Zeitpunkt zu viel abgebuchte Beträge zurückfordern können, damit die Wohnungsbaugesellschaft nicht in Gefahr gerät. Das ist absurd und wäre ein sehr gefährlicher Präzedenzfall.
Grundlage dafür, dass der Betrug überhaupt möglich war, ist das spanische Kreditsystem, das hier immer wieder kritisiert wurde. Denn in Spanien werden Kreditverträge fast ausschließlich mit kurzfristig variablen Zinsen abgeschlossen. So konnten die Banken steigende Zinsen (sie sind meist an den Interbankensatz Euribor) gebunden, voll an die Kreditnehmer mit einer kurzen zeitlichen Verzögerung weitergeben. Das führte nach dem Platzen der Immobilienblase in der Finanzkrise dazu, dass über den explodierenden Euribor zahllose Familien die stark gestiegenen Zinsen nicht mehr bezahlen konnten, da zudem die Arbeitslosigkeit ab 2007 in die Höhe schnellte.
Bekannt ist längst, dass auch die zu hohen Zinsforderungen von Banken oft zu Zwangsräumungen führten, von denen mehr als eine halbe Million Familien in Spanien betroffen waren. Allerdings hatten die Banken, um fallende Zinsen nicht an die Verbraucher weitergeben zu müssen, sogenannte Mindestzinssatzklauseln missbräuchlich als Boden in die Verträge eingezogen, wie auch die Madrider Richter längst festgestellt haben.
Als der Euribor dann nach massiven Interventionen auch der Notenbanken wieder fiel, hatten viele Kreditnehmer kaum etwas davon. Ab 2009 stellten Verbraucher plötzlich fest, dass ihre Zinslast plötzlich gleichblieb, obwohl der Euribor fiel und fiel. Plötzlich stellten sie im Kleingedruckten die Mindestzinsklauseln fest, gegen die sie klagten und grundsätzlich auch in Spanien Recht bekamen.
Da der Oberste Gerichtshof in Spanien mit Rücksicht auf die Banken aber nicht anordnete, auch die vor dem Urteil zu viel bezahlten Zinsen zurückzuerstatten, zogen sie vor den EuGH in Luxemburg. Dort haben ihre Hoffnungen auf Gerechtigkeit nun einen schweren Rückschlag erlitten. Denn Mengozzi stellte fest, dass die entsprechende EU-Richtlinie "nicht die Voraussetzungen festlegt, unter denen ein nationales Gericht befugt ist, die Wirkungen der Entscheidungen zu beschränken. Das sei "Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten" unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität des Unionsrechts. "Die makroökonomischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der weit verbreiteten Verwendung dieser Klauseln rechtfertigen diese Beschränkung", meinte der Generalanwalt schließlich.
Er sprach sogar von einer "abschreckenden Wirkung“, die die komplette Rückzahlung aller zu viel gezahlten Beträge auf die "Gewerbetreibenden" habe. Die sei nach Ansicht von Mengozzi merkwürdigerweise eine "Sanktion". Deshalb könne "ein nationales oberstes Gericht bei der Entscheidung über die zeitlichen Wirkungen seines Urteils den Schutz der Verbraucher gegen die makroökonomischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der weit verbreiteten Verwendung der Mindestzinssatzklauseln abwägen".
In diesem Kontext ist der Generalanwalt der Ansicht, "dass die genannten Herausforderungen ausnahmsweise die zeitliche Beschränkung der Wirkungen der Nichtigkeit einer missbräuchlichen Klausel rechtfertigen können, ohne dass das Gleichgewicht in dem Verhältnis zwischen Verbraucher und Gewerbetreibendem gestört ist". Deshalb schlägt Mengozzi den EuGH-Richtern im Gutachten vor, sie sollten die Vereinbarkeit mit der entsprechenden Richtlinie feststellen und die Klagen der Verbraucher verwerfen.
Diese sind über dieses Gutachten entsetzt, während vielen spanischen Experten diese Rechtsauffassung die Sprache verschlagen hat. Der spanische Wirtschaftsprofessor Juan Antonio Maroto sieht die klaren Probleme der Banken in Portugal und in Italien im Hintergrund. "Wenn Urteile allgemein dazu führen, dass die Banken das Geld ab dem Zeitpunkt des Vertrages der entsprechenden Produkte zurückzahlen müssen, wird die Lage der Banken weiter zugespitzt."
Maroto geht auch davon aus, dass der Brexit eine Rolle spielt, der die Lage der Banken weiter verschlechtern könne. "Wir Steuerzahler werden dafür wieder aufkommen müssen“, ist er überzeugt.
Die Verbraucherschutzvereinigung Adicae meint, das Gutachten stellt den Sinn der europäischen Institutionen schwer in Frage, da "das Interesse der Banken über den Schutz der Verbraucher und der Gesetze" gestellt werde. Es werde das falsche Argument bemüht, wonach Banken abstürzen würden, wenn sie die gesamten Beträge zurückzahlen müssen, die über die Mindestzinssatzklauseln eingenommen wurden.
Das Argument ist schon deshalb nicht von der Hand zu weisen, da die zentral betroffene BBVA sich selbst immer als stabile Bank darstellt. Sie erhielt in der Finanzkrise keine Staatshilfen und wies 2015 einen Gewinn in Höhe von mehr als 2,6 Milliarden Euro aus. Den konnte sie gegenüber dem Vorjahr um fast 1% steigern. Schon aus diesem Gewinn könnten die Rückzahlungen vermutlich praktisch komplett bestreiten.
Adicae verweist ihrerseits auf den Konsumschub und die Bedeutung für die spanische Wirtschaft hin, wenn plötzlich darbende Familien die kompletten Rückzahlungen erhalten würden. "Wir hoffen, dass die Bankenlobby weniger konspiriert und mit den Betroffenen und Adicae vernünftig und gerecht verhandelt“, sagte Manuel Pardos. Der Präsident der Vereinigung verwies darauf, dass sich auch die EU-Kommission in diesem Fall für die komplette Rückzahlung in einer Stellungnahme ausgesprochen und ein Sanktionsverfahren gegen Spanien eingeleitet habe und mit Strafen drohe, weil noch immer nicht alle Beträge zurückgezahlt wurden.
"Das ist nicht das Europa das wir wollen, sondern ein diskreditiertes Europa, das sich den Interessen der Banken unterordnet“, erklärte Pardos mit Blick auf das Gutachten. Angesichts der Tatsache, dass die Beurteilung schon zwischen Brüssel und dem Generalanwalt gegeneinander stehen, wollen die Betroffenen weiter protestieren und Druck machen. Sie hoffen darauf, dass letztlich die Richter im Herbst die Rechtsauffassung von Mengozzi verwerfen, was allerdings nur selten der Fall ist. Meist folgt der EuGH der Rechtsauffassung des Generalanwalts.
Allerdings stehen in diesem Fall auch einige frühere Entscheidungen der Richter im Widerspruch dazu. Denn der EuGH hatte sogar von Spanien eine Reform von Gesetzen im Zusammenhang von Zwangsräumungen gefordert. Denn die Richter hatten festgestellt, dass missbräuchliche Klauseln in Kreditverträgen den Verbraucherschutz aushebeln, was sogar zum "irreversiblen Verlust der Wohnung“ führt.
Spanische Gesetze machen es praktisch unmöglich, ein eingeleitetes Zwangsräumungsverfahren wieder zu stoppen, auch wenn es auf Missbrauch beruht. Und wie längst klar ist, basieren Verfahren eben auch darauf, dass Banken missbräuchlich zu hohe Zinsen von den Kreditnehmern verlangt haben. Die Luxemburger Richter hatten im vergangenen Jahr sogar geurteilt, dass auch die Reform weiterhin nicht mit europäischen Verbraucherschutzrechten vereinbar ist.
Würden die Richter nun also die Rechtsauffassung von Mengozzi bestätigen, würden sie sich gegen eigene Urteile stellen und das Verbraucherrecht extrem schwächen. Damit würde Tür und Tor für jeden Missbrauch und zur ständigen Ausweitung von "Ausnahmen" geöffnet.
Man hätte es geradezu mit einer Einladung an Banken zu tun, die Verbraucherrechte mit Füßen zu treten. Sind der Missbrauch und die Beträge nur groß genug, bleiben Konsequenzen praktisch aus, um Banken nicht zu "verschrecken“, deren Rettung weiter "alternativlos" zu sein scheint. Dabei sollten doch ab 2016 Banken abgewickelt werden können. Dafür sollten eigentlich Aktionäre und Sparer mit Guthaben über 100.000 Euro zur Kasse gebeten werden, um nicht erneut die Steuerzahler zur Kasse bitten.
Doch auch das wackelt angesichts der Umsetzung längst merklich, denn Italien bastelt längst an einem Notfallplan und will seine Banken mit 40 Milliarden Euro aus dem Steuersäckel stützen. Mit Blick auf den Brexit wird auf außerordentliche, systemisch einschneidende Umstände verwiesen, um auch hier eine Ausnahmeregelung durchzubringen.
Angesichts des Widerstands aus Deutschland hat Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi schon erklärt, die Italiener hätten eigentlich gar kein Problem. "Die wirkliche Frage zu den europäischen Finanzen sind nicht die notleidenden italienischen Kredite, sondern die Derivate anderer Banken", zeigte er mit Finger auf deutsche Banken.