Sitzfrage beim Mittagessen
Estland und Frankreich schlagen gemeinsamen Standort der zukünftigen Agentur für die Polizeidatenbanken der Europäischen Union vor
Die Überlegungen zum Sitz der "Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Bereich Freiheit, Sicherheit und Recht" gehen in eine neue Runde. Nur Frankreich und Estland hatten einen entsprechenden Antrag für die Ansiedelung der umstrittenen neuen Behörde gestellt, die zukünftig mehrere polizeiliche EU-Datenbanken zentral verwalten soll. Nach 2010:0633:FIN:DE:PDF: bisherigem Stand geht es um das ins Gerede gekommene Schengener Informationssystem (SIS II), die bald in Betrieb gehende Visa-Datensammlung VIS sowie die Fingerabdruckdatenbank EURODAC. Allerdings stehen bereits Forderungen nach neuen polizeilichen Datenhalden im Raum.
Ihre Bewerbung hatten Estland und Frankreich unterschiedlich begründet. Frankreich etwa verwies auf Synergieeffekte mit dem in Strasbourg befindlichen SIS II. Jetzt überraschen beide Länder unter ausdrücklicher Zustimmung Österreichs mit einem neuen Vorschlag, um "Stärken und Fachkenntnisse gemeinsam zu nutzen". Die Regierungen schlagen dem Europäischen Parlament sowie dem Rat vor, dass der Sitz der Agentur im estnischen Tallin liegen könnte, um ihr eine "maximale politische und strategische Dynamik" zu verleihen. In Tallin würden demnach auch die meisten Verantwortungsbereiche, darunter Verwaltung und Strategie sowie "einige Vorbereitungsmaßnahmen" angesiedelt. Die technische Entwicklung und der Betrieb jener polizeilichen Datensammlungen, die von der IT-Agentur zentral verwaltet werden, sollen allerdings weiter in Strasbourg verbleiben. Wie beim SIS II würde auch das Betriebsmanagement der Polizeidatenbanken per Backup im österreichischen Pongau gespiegelt werden.
Dem gemeinsamen Vorschlag von Estland und Frankreich könnte das Unbehagen zugrunde liegen, ausgerechnet Tallin mit der technischen Handhabung der auch digital zunehmend grenzüberschreitenden Polizeikooperation innerhalb der EU zu betrauen. Estland war 2007 Adressat eines DDoS-Angriffs, der Regierungs-Webseiten und Internetdienste in die Knie zwang und jetzt gern als Rechtfertigung bemüht wird, EU-weite Strukturen zur Abwehr von Cyberangriffen aufzubauen.
Der neue Vorschlag spricht bereits davon, dass die Agentur auch für "künftige Systeme" zuständig sein könnte. Als Vorteile dieser Regelung lägen laut dem Papier in einer eindeutig definierten Aufgabenteilung und einer zentralisierten Verwaltung. Für die Europäische Union fielen kaum neue Kosten an. In Strasbourg schon vorgenommene Ausgaben könnten integriert werden. Hierauf hatte Frankreich mit Nachdruck gepocht, um die französischen 60 Millionen Euro sowie die von der EU bereitgestellten 15 Millionen Euro für das Schengener Informationssystem effizienter zu nutzen.
Weitere erhebliche Investitionen (etwa für den Bau des Errichtung Verwaltungsgebäude und der Anmietung eines Interimsgebäudes) hatte Estland im Falle des Zuschlags ohnehin schon versprochen. Insgesamt geht Estland von Investitionen in Höhe von 8,3 Millionen Euro aus. Zwar entstünden fortan höhere Reisekosten durch die zweigeteilte Agentur, diese würden jedoch durch die estnischen Finanzzusagen ausgeglichen.
Die Abstimmung zur "IT-Agentur", die schon 2011 ihre Arbeit aufnehmen soll, dürfte indes nicht reibungslos vonstatten gehen. Insbesondere Fragen zur Struktur oder den Stimmrechten der Mitgliedsstaaten zur Ernennung des Exekutivdirektor provozieren Auseinandersetzungen. Offen ist, ob etwa der Rat für dessen Ernennung zuständig wäre. Im Raum steht, bereits jetzt einen Interimsdirektor zu bestimmen, der nach Wunsch der Kommission über "volle Kompetenzen" zur Personalgewinnung oder Budgetfragenverfügt. Österreich, Deutschland und Frankreich lehnen den Vorschlag ab und fordern stattdessen, den endgültigen Direktor zügig zu ernennen.
Zudem bleibt unklar, wie jene Regierungen, die den Schengenbesitzstand nicht in vollem Umfang anwenden (darunter Großbritannien, Irland, Dänemark) an der Agentur beteiligt sind. Dänemark besteht auch wegen finanzieller Beiträge darauf, wie bei der EU-Agentur zur Migrationsabwehr Frontex volle Stimmrechte zu erhalten. Ein Kompromissvorschlag läuft darauf hinaus, dass Mitgliedsstaaten dann über Stimmrechte verfügen, wenn sie an "Schengener IT-Systemen" (SIS, VIS) beteiligt sind - EURODAC etwa gilt als "Nicht-Schengener IT-System".
Luxemburg, Bulgarien und Zypern wiesen darauf hin, die Frage nach dem Sitz der Agentur nicht in der neuen Verordnung zu behandeln, um nicht - wie in ordentlichen Gesetzgebungsverfahren üblich - auf die Zustimmung des Parlaments warten zu müssen. Deutschland fordert, die "Sitzfrage" innerhalb des Rates der Innen- und Justizminister zu klären. So wird es wohl auch geschehen: Die Tagesordnung der heute stattfindenden Ratssitzung sieht den Punkt "Sitzfrage" beim gemeinsamen Mittagessen vor.