Sozialer Druck auf Senioren wächst
Die Razzien gegen Pflegedienste zeigen, dass die Methoden des Hartz-IV-Regimes jetzt auch nach Eintritt in die Rente ausgedehnt werden sollen
In den letzten Tagen wurden wir in vielen Medien mit einem neuen Phänomen vertraut gemacht, der osteuropäischen und da vor allem russischen Pflegemafia. Die Verhaftung einer in Berlin lebenden Pflegedienstleiterin wurde in vielen Medien als Beweis für die kriminellen Machenschaften gewertet. Unschuldsvermutungen wurden großzügig ignoriert und mit nationalen Zuschreibungen ging man großzügig um.
Dass in Deutschland osteuropäische Pflegekräfte sehr begehrt sind, weil sie in der Regel wesentlich billiger sind als deutsche Beschäftigte wurde gar nicht erwähnt. Dass sie teilweise unter Arbeitsbedingungen beschäftigt wurden und werden, die schlicht kriminell sind, findet in den Medien längst nicht so viel Aufmerksamkeit, wie die reißerisch aufgemachten Beiträge über die "osteuropäische Pflegemafia".
In juristischen Blogs ging man viel sachlicher mit dem Thema um und sprach korrekt von Ermittlungen wegen Betrugs, ohne wie in den meisten Medien das Ergebnis schon vorweg zu nehmen. Auf den juristischen Blogs wird auch vor den Folgen der reißerischen Berichterstattung gewarnt: "Hierbei kommt es leider auch zu Vorverurteilungen in der Presse, und insbesondere z. B. russische oder türkische Pflegedienste werden unter Generalverdacht gestellt."
Es wird auch daran erinnert, dass es schon reicht, wenn eine Pflegeleistung nicht ausreichend dokumentiert war, um Ermittlungen auf sich zu ziehen. Dass fehlende Dokumentationen auch die Ursache von Personalmangel und Überarbeitung sein kann, ist in der öffentlichen Diskussion kein Thema.
Fortsetzung von Hartz IV über das Rentenalter hinaus
Im Visier sind aber nicht nur Mitarbeiter und Leiter von Pflegediensten, sondern auch die Pflegepersonen und ihre Angehörigen. Dabei scheut sich auch der Berliner Tagesspiegel nicht, die Unschuldsvermutung zu ignorieren und den Konflikt zu ethnisieren:
"Zu den Übeltätern gehören in Mitte vor allem Einwanderer aus Russland und der Türkei. Das ließ sich allein aus den Daten des Sozialamtes herleiten. Menschen mit russischem Pass oder Geburtsort in der ehemaligen Sowjetunion waren sieben Mal häufiger pflegebedürftig als der Durchschnitt. Und knapp zehn Jahre jünger. Bei den türkischen Patienten wurde der Faktor fünf ermittelt. Eine Häufung, die sich kaum durch kulturelle oder soziale Faktoren erklären lässt."
Da wird einfach schon deswegen Betrug unterstellt, weil die Menschen aus bestimmten Ländern häufiger pflegebedürftig sind als andere. Dass es auch ganz andere Ursachen wie schwere und gesundheitsschädliche Beschäftigungen geben kann, wird nicht einmal erwogen.
Ein besonderes Geschmäckle bekommt die ganze Auseinandersetzung, wenn man bedenkt, dass unter den Migranten aus Russland auch viele Jüdinnen und Juden gehören, die aus ihren Kindheitstagen noch Erinnerungen an die deutsche Vernichtungspolitik haben und die ihre nächsten Angehörigen durch deutschen Terror verloren haben können.
Welche Ausforschungsmethoden nicht nur gegen die Leitung und das Personal von Pflegediensten, sondern auch gegen Patienten angewandt werden, wird durch die Zeitungsberichte ebenfalls deutlich:
"In diesem Fall wurde der Betrug ganz einfach durch das Googeln des Namens aufgedeckt. Ähnlich lief es bei einem 70-Jährigen aus der Ukraine. Bei den Hausbesuchen fiel auf, dass er immer Wollmütze und Mundschutz trug und angeblich kein Wort Deutsch sprach. Im Internet fand sich derselbe Mann, aktiv in politischen Foren, in deutscher Sprache. Das Sozialamt schaltete die Polizei ein, die den Mann zu Hause kerngesund antraf."
Da wird zunächst einmal überhaupt nicht klar, worin denn der Straftatbestand liegt. Warum kann jemand, der eine Wollmütze und einen Mundschutz trägt, nicht in politischen Foren aktiv sein? Was sagt das über seine Pflegebedürftigkeit aus? Welcher Straftatbestand wird verletzt, wenn ich selber entscheide, in welcher Sprache ich wo kommuniziere?
Ein anderer Patient, der als betrügerischer Pflegepatient in den Medien vorgeführt wurde, soll von Nachbarn dabei beobachtet worden sein, wie er Müll im Hof entsorgte, obwohl er als Pflegefall geführt wird. Dass auch schwer kranke Menschen nicht immer bettlägerig sein müssen und dass es vom gesundheitlichen Standpunkt sogar äußerst sinnvoll ist, wenn sie sich - und sei es nur für kurze Zeit - bewegen und vor die Tür gehen, wird dabei ignoriert.
Nicht gesundheitsfördernd sind hingegen die Überwachungen sowie polizeiliche und juristische Maßnahmen gegen Senioren. Hier ergibt sich ein großes Betätigungsfeld für Blockwarte aller Art, die auf der Lauer liegen, um ihre Nachbarn zu denunzieren. Senioren werden dann Angst haben, überhaupt noch vor die Tür zu gehen, weil die Gefahr besteht, dass das schon als Indiz für Pflegebetrug angesehen wird.
Ausforschung bis ins Grab
So wird den Senioren noch ihr Leben vergällt durch Angst vor Ausforschung und denunziatorische Nachbarn. Es ist die Fortsetzung des Hartz IV-Systems auf die Zeit nach der Verrentung. Auch Menschen, die Leistungen nach Hartz IV beziehen, müssen immer damit rechnen, dass Sozialdetektive die Wohnung besichtigen und sich überzeugen wollen, ob sie in einer Bedarfsgemeinschaft leben.
Auch bei Hartz IV-Empfängern wird schnell die Unschuldsvermutung über Bord geworfen und in regelmäßigen Abständen gibt es in den Boulevardmedien Schlagzeilen über angeblichen Sozialbetrug von Hartz IV-Beziehern. Die vielen Fälle, wo Hartz IV-Beziehern von den Jobcentern Leistungen vorenthalten und fehlerhafte Beschiede verschickt wurden, werden hingegen in den meisten Medien nicht erwähnt.
Die Kampagnen gegen Pflegedienste und ihre Nutzer komplementieren nur die Maßnahmen, die sich gegen einkommensarme Menschen richten. Sie sollen sich nicht in Sicherheit wiegen, dass ihnen zumindest nach der Verrentung keine Daumenschrauben mehr angesetzt werden können. Es geht darum, den Senioren jegliches Anspruchsdenken auszutreiben, aber es ist auch eine Warnung an die jüngeren Menschen, sie sollen bloß nicht annehmen, dass der Staat schon für ihr Auskommen sorgt, wenn sie alt sind.
So wurde zeitgleich mit der Kampagne gegen betrügerische Pflegedienste und Patienten gefordert, dass jüngere Leute gezwungen werden sollen, sich um ihre Rente zu kümmern. Es ist nicht verwunderlich, dass das wirtschaftsnahe Managermagazin besonders scharf Jüngere kritisiert, die zu wenig für die private Altersversorgung sorgen.
Dass dies die Folge von Erfahrungen der letzten Jahre sein kann, wird gar nicht in Erwägung gezogen. So wurden alle Warnungen vor der Riesterrente jahrelang als ideologisch zurückgewiesen, obwohl selbst wirtschaftsnahen Medien zu dem Ergebnis kommen, dass sie kein Beitrag zur Bekämpfung der Altersarmut ist. Das kann heute niemand mehr bestreiten.
Ein würdiges Leben im Alter als Grundrecht
Die Frage, ob es diese Gesellschaft hinnimmt, dass im Alter massenhaft Menschen in Armut leben müssen, oder ob es ein Grundrecht für ein würdiges Leben im Alter gibt, wird eine zentrale Auseinandersetzung der nächsten Jahre in der deutschen Sozial- und Innenpolitik sein. Es wird auch zum Wahlkampfthema.
Schon seit Jahren haben sich vornehmlich Nachwuchspolitiker von CDU/CSU und FDP mit Ressentiments gegen anspruchsvolle Alte profiliert und schon mal in Frage gestellt, ob jemand im Alter noch ein neues Hüftgelenk braucht. Nun wird gleich auf mehreren Ebenen der soziale Druck erhöht. Dass Wolfgang Schäuble wieder einmal in Erinnerung ruft, dass er nicht nur für die Menschen an der europäischen Peripherie soziale Grausamkeiten anzubieten hat, zeigt sein Vorstoß für eine Erhöhung des Rentenalters. Er ist damit nicht allein, sondern wird von einer Phalanx von Wirtschaftsverbänden, ihnen nahestehenden Medien und Politikern unterstützt.
Die soziale Gegenposition gegen den zunehmenden Druck auf die Senioren ist noch schwach. Ein würdiges Leben im Alter muss zum Grundrecht werden. Schließlich gibt es heute so viele prekäre Arbeitsverhältnisse, in denen es vielen Menschen gar nicht möglich ist, in die Rentenversicherung einzuzahlen. Hier liegt ja auch der Grund für die wachsende Altersarmut.
Senioren sind allerdings längst nicht nur die hilfebedürftigen Pflegefälle, die ansonsten nur noch für die Werbung interessant sind. In Ländern wie Spanien und Italien haben sich auch Senioren politisch engagiert. Vor einigen Jahren sorgten auch in Deutschland ältere Menschen, die ihre Seniorenbegegnungsstätte in der Stillen Straße in Berlin-Pankow besetzten, um die drohende Schließung zu verhindern, und die Palisadenpanther, die massive Mieterhöhungen in einer Seniorenwohnanlage verhinderten, für Aufmerksamkeit. Der Druck auf die Senioren könnte auch dazu führen, dass solche Beispiele Schule machen.