Videoüberwachung und Zivilcourage

Nach einem Herzinfarkt lag ein 58-Jähriger fünf Stunden in einem Aufzug der Wiener U-Bahn. Niemand half. Dies führt jetzt zu Diskussionen über Zivilcourage und Videoüberwachung.

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Die Wiener Linien bedauern auf ihrer Facebook-Seite den Tod des Mannes und weisen darauf hin, dass man in so einem Fall die Notrufeinrichtungen verwenden "und nicht aufgrund falscher Annahmen (zum Beispiel ein Obdachloser der einen Schlafplatz sucht) von der Verständigung der Leitstelle absehen."

"Wieso schaut von euch keiner nach, sind eure Kameras nur Fakes?" oder "Aber was ist mit der Überwachungskamera passiert???? Ausser Betrieb oder nur Dekoration????" wird in den Kommentaren gefragt. Die Wiener Linien weisen darauf hin, dass die Kameras die Stationen nur partiell überwachen. Die Bilder der Videokameras im Aufzug werden erst nach Betätigung der Notsprechstelle direkt in die Leitstelle übertragen.

Hier zeigt sich schon das, was seit Jahren von Kritikern der Videoüberwachung gesagt wird: die Kameras helfen nicht, nur ggf. die Menschen dahinter. Und die Menschen vor der Kamera verlassen sich darauf, dass andere eingreifen, dass Sicherheit und Hilfe gewährleistet werden. "Mutig warf sich die kleine Kamera zwischen Opfer und Angreifer" kommentierte bereits 2004 der Blogger Melle den Kongress zur Videoüberwachung. Vielen ist nicht bewusst, wie sehr sich die Fiktion "die Kameras übertragen permanent und im Notfall kommt sofort jemand" von der Realität unterscheidet.

Wie diese Realität aussieht, beschreibt das österreichische Newsportal Futurezone: "Tatsächlich wurden an dem Abend die Bilder des Aufzugs auf den lokalen Split-Screen der Stationsaufsicht übertragen[...] Da sind allerdings auf einigen kleinen Bildschirmen insgesamt drei Lifte, mehrere Bahnsteige, Rolltreppen, Gänge und Korridore zu sehen. Hätte jemand die Stationsaufsicht benachrichtigt, hätte der Mitarbeiter sich die Szene heranzoomen und einschreiten können. [...] Die Kameras übertragen ein Live-Bild in die Leitstelle, wenn die Notrufeinrichtungen betätigt wurden. Das war nicht der Fall." Seitens der Wiener Linien heißt es: „Der Hauptzweck der Kameras in den Aufzügen ist es, Notfälle einschätzen zu können“ Die Videobilder im vorliegenden Fall wurden aufgenommen und gespeichert, jedoch nicht an die Livenzentale übertragen, so dass jetzt Ermittlungen gegen jene aufgenommen werden können, die dem Mann nicht geholfen haben.

Die beiden Mitarbeiter der Wiener Linien, die ihre Kontrollgänge nicht aufnahmen, wurden bereits entlassen. "Während der Nachtstunden sind zwei Kontrollgänge durch jede unserer Stationen vorgeschrieben. Darunter fallen auch die Aufzüge. Die Mitarbeiter haben diese Vorschrift ignoriert. Sie wurden entlassen“ so die Sprecherin der Wiener Linien. Für den 58jährigen Stanislav Bach, der des öfteren in Caritas-Unterkünften blieb und selbst unterstandslos war, ist das kein Trost mehr.

Der Fall zeigt nicht nur, dass die Videoüberwachung in solchen und auch anderen Fällen nur dann helfen kann, wenn der Hilfesuchende noch in der Lage ist, seinen Notfall zu melden. Er zeigt auch, mit welcher Selbstverständlichkeit manche Menschen an jemandem, von dem sie annehmen, er sei entweder betrunken oder bekifft oder "nur ein Unterstandsloser" vorbeigehen, ohne überhaupt daran zu denken, Hilfe zu rufen. Kampagnen sollen jetzt helfen, dass Menschen mehr Zivilcourage zeigen.

"Wir können da nicht so tun , als wäre nichts geschehen. Die Wiener Stadtregierung muss einen Plan erarbeiten und öffentlich publik machen, wie Erste Hilfe zu leisten ist. Sie könnte eine App entwickeln, da ohnehin jeder mit einem Smart-Phone unterwegs ist, wie schnell Hilfe geholt werden kann. Aber die beste Technik hilft nichts, wenn das Herz versagt. Nicht das eines Mannes, der einen Herzinfarkt erleidet, sondern das Herz von uns allen, denen alles wurscht ist, was uns nicht persönlich betrifft. " kommentiert Helmut Brandstätter, der Chefredakteur des Kurier, treffend. Ob Zivilcourage wirklich eine App braucht, die jedes vermeintlich gerettete Leben auf Facebook postet, wenn ein einfach Notrufknopf anscheinend nicht mehr ausreicht?