Wie lange kann sich Erdogan noch halten?
In der Türkei spitzt sich die innenpolitische Situation zu. Wieder hofft man auf Wahlen
Zwei Tote, zahlreiche Verletzte, mehrere in Brand gesetzte Parteibüros der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP und verschiedener Oppositionsparteien - in den letzten Tagen sind in der Türkei wieder Massen auf die Straße gegangen. Auslöser der neuerlichen Proteste war der Tod des 15jährigen Berkin Elvan.
Elvan war im Juni letzten Jahres bei den Geziparkprotesten in Istanbul von einer Tränengasgranate getroffen worden und ins Koma gefallen. Am vergangenen Dienstag ist er gestorben. Schon wenige Stunden später waren die Menschen wieder auf der Straße. Auch im Ausland nahmen türkische Menschen Anteil an den Ereignissen. So gab es in den letzten Tagen in Berlin an mehreren Tagen Proteste und Mahnwachen. Viele ehrten den Toten durch das Auslegen von Brotlaiben.
Der Jugendliche war von der Granate getroffen worden, als er Brot holen wollte und war gar nicht an den Protesten beteiligt. Eigentlich ist die Betonung dieses Details überflüssig, denn der Tod des jungen Mannes wäre genauso zu verurteilen, wenn er Demonstrant gewesen wäre. Doch für die Mobilisierung hatte dieses Detail tatsächlich Bedeutung. Die Empörung der Menschen war größer, weil jemand betroffen war, der nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Platz war.
Zerbröckelt der islamistisch-konservative Machtblock?
Doch erst die gesamte innenpolitische Situation in der Türkei macht die Rückkehr der Proteste besonders brisant für die Regierung. So waren die Proteste vom letzten Jahr eine Zäsur in der Türkei. Viele Menschen lernten dort, ihre Interessen zu artikulieren und sich nicht auf die Beruhigungsfloskeln der Politiker zu verlassen. Doch zunächst schien es, als wäre es der Regierung mit massiver Repression und Propaganda gelungen, die Proteste einzudämpfen. Aber die Ruhe währte er nur kurz.
Denn nun zeigten sich die Risse im einen Jahrzehnt alten hegemonialen islamistisch-konservativen Machtblock. Der offene Kampf zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP führte dazu, dass Dinge, die bisher im Geheimen stattfanden, auf einmal auf offener Bühne verhandelt wurden. Plötzlich machten Korruptionsvorwürfe die Runde; heimlich aufgenommene Telefonate höchster Politiker bis hin zu Erdogan und seinen Söhnen sorgten für Erheiterung beim Publikum.
Die Regierung sprach wie üblich von Putsch und Verschwörung und versuchte, durch den Austausch von Personal in den verschiedenen Staatsapparaten vor allem die Justiz wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Das ist auch teilweise gelungen. Jedoch zu dem Preis, dass sowohl die Regierung als auch die parlamentarische Opposition an Vertrauen verloren haben.
Die meisten Leute gehen davon aus, dass die Politiker bestechlich sind, und regen sich daher auch nicht mehr besonders darüber auf. Zunächst hatte der Machtkampf im Herrschaftsapparat die Geziproteste nicht nur medial verdrängt. Viele der Aktivisten fühlten sich durch den Machtkampf im Apparat an den Rand gedrängt.
Erst als die Regierung mit einer verschärften Internetkontrolle auf den Machtkampf reagierte, begannen sich die Straßen wieder mit Protestierenden zu füllen. Zunächst kam ihre Zahl längst nicht an die Dimensionen der Geziproteste vom letzten Jahr heran. Aber nun hat der Tod des Jugendlichen der Proteststimmung weiter Auftrieb gegeben. Der Regierung schlage blanker Hass entgegen, heißt es in vielen Zeitungen.
Werden die Kommunalwahlen zum Stimmungstest?
Bis zum 30 März dürfte die Unruhe anhalten. Dann sind in der Türkei Kommunalwahlen, und die sind ein Stimmungstest für die Beliebtheit der Regierung nach den Geziprotesten und den Zerwürfnissen innerhalb des Machtblocks. Erdogan hat diese Wahlen zur Volksabstimmung über seine politische Zukunft erklärt.
Fällt seine AKP unter 30 %, und geht zudem noch das symbolträchtige Amt des Bürgermeisters von Istanbul an die kemalistische Opposition, dann könnte tatsächlich das Ende der Herrschaft von Erdogan kommen. Dann dürften auch die Absatzbewegungen in seiner eigenen Partei stärker werden. Bis jetzt wird jede kritische Äußerung an der Politik und dem Verhalten von Erdogan mit dem Parteiausschluss geahndet. Doch eine solche Strategie kann sich nur durchsetzen, solange sie Erfolge verspricht.
Das weiß auch Erdogan, daher setzt er alles auf eine Karte. Die Rechnung könnte aufgehen. Gerade die neuesten Unruhen, die mit einer Welle von Angriffen auf Büros nicht nur der Regierungspartei verbunden sind, könnte Erdogan für seine Strategie nutzen, sich als Alternative zum drohenden Chaos zu positionieren. Damit kann er die islamistisch-konservativen Wählerschichten auf seine Seite ziehen und Zweifler in den eigenen Reihen zum Schweigen bringen.
Dann könnte die AKP durchaus wieder 40 % der Stimmen erreichen, was Erdogan als Mandat zum harten Durchgreifen gegen die Opposition und die Kontrahenten in den eigenen Reihen interpretieren würde. Daher wäre es auf jeden Fall noch verfrüht, Erdogans Sturz als unmittelbar bevorstehend zu sehen.
Erstarkende Rechte
Selbst wenn er massive Stimmenverluste erleidet und tatsächlich seine Ankündigung einhält und zurücktritt, was längst nicht sicher ist, wäre es falsch, dann den Sieg der Gezipark-Proteste auszurufen. Zumindest wenn man mit der Bewegung eine generelle Kritik an Staat und Wirtschaft verbindet. Sollte der gegenwärtig hegemoniale Machtblock zerfallen, könnten davon auch Ultrarechte, Nationalisten und Faschisten profitieren.
In Gestalt der MHP waren diese Kräfte in der Vergangenheit schon mehrmals im Parlament und auch in der Regierung vertreten. Ihre Hauptfeinde sind Linke unterschiedlicher Couleur sowie die kurdische Nationalbewegung. Es ist sicher kein Zufall, dass in den letzten Wochen verstärkt Wahlbüros von Parteien angegriffen wurde, die dieser Bewegung nahestehen. Im Fokus stehen die kurdische BDP und die mit ihr assoziierte linken HDP.
So wurde am Wochenende in der Mittelmeerstadt Fethiye ein Wahlkampfbüro der HDP von einer aufgehetzten Menge angegriffen. Unter Beteiligung des örtlichen Bürgermeisters zog ein rechter Mob zu dem Büro, riss das Plakat der HDP herunter und hisste eine türkische Flagge. Die Mitglieder der HDP konnten rechtzeitig fliehen. Zuvor hatten schon rechte Gruppen Auftritte von HDP-Kandidaten am Schwarzen Meer verhindert.
Politische Beobachter befürchten, dass es zu weiteren Attacken kommt, wenn Erdogan seine Anhänger nicht nachdrücklich zur Ruhe aufruft. Das kurdischeZentrum für Öffentlichkeit weist darauf hin, dass solche Angriffe von rechten Massenmedien angeheizt werden, die die BDP und HDP als Tarnorganisation der kurdischen PKK denunzieren. Die Parole des linken Parteienbündnisses lautet: "Mit dem Geist des Gezi-Widerstandes in die Kommunalwahlen."
Wie weit die Regierung hinter den rechten Angriffen steht, ist unklar. Tatsächlich aber wird dadurch deutlich, dass nach einem Sturz Erdogans auch ein noch autoritäreres Regime denkbar wäre. In den letzten Wochen wurden einige Gefangene freigelassen, die in umstrittenen Gerichtsverfahren zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Darunter befinden sich viele Kritiker der autoritären Erdogan-Politik, aber auch erklärte Nationalisten und Faschisten.
Viele von ihnen werden nun aus der Haft entlassen, weil die Regierung nach der Ausschaltung von Justizpersonal, das der Gülen-Bewegung nahestehent, das Interesse für unschuldig Inhaftierte entdeckt hat. Auch dieser Schritt könnte darauf hindeuten, dass es die Regierung darauf anlegt, die innenpolitischen Unruhen so anzuheizen, dass die Wahlen verschoben werden müssen oder in einem Klima der Einschüchterung stattfinden und Erdogan bestätigen.