Wie viele Amazon-Mitarbeiter streiken denn nun? oder: Also, ver.di hat gesagt ...
Bei der unendlichen Geschichte um die Frage, ob Amazon-Mitarbeiter nun Logistik- oder Einzelhandelsmitarbeiter sind, bleibt die journalistische Sorgfalt auf der Strecke
Ein Journalist, so hieß es einst, sollte sich nicht mit einer Sache solidarisieren, sondern berichten. Von dieser Idee hat sich der Journalismus (auch, weil dies vom Publikum honoriert wird) längst verabschiedet und setzt oft auf Meinung. Doch auch bei vermeintlich lediglich Tatsachen wiedergebenden journalistischen Erzeugnissen sind Tendenzen erkennbar.
So sollte beispielsweise normalerweise ein Journalist beide beteiligten Parteien zu einer Angelegenheit befragen und beide Seiten darstellen. Dies wird aber nicht immer getan. Wobei hier anzumerken ist, dass sich oft genug diverse Parteien gar nicht mehr zur Angelegenheit äußern, was jedoch im Artikel durchaus seinen Platz finden kann. Formulierungen wie "wollte sich nicht zur Angelegenheit äußern" oder "eine Antwort auf eine Anfrage an X wurde bisher nicht beantwortet" können zumindest den Versuchdokumentieren, beide Seiten zu befragen.
Besonders deutlich wird die Wiedergabe einer einseitigen Ansicht bei der Berichterstattung über die Arbeitsniederlegungen beim Unternehmen Amazon. Es ist gleichgültig, auf welcher Seite hier jemand steht, ob er nun meint, Amazon sei Logistikunternehmen oder Einzelhandelsunternehmen, ob er Amazons Arbeitsregelungen gutheißt oder nicht. In der Berichterstattung sollte Amazon jedenfalls eine Stimme bekommen - gerade auch, was die Anzahl der tatsächlich streikenden Mitarbeiter angeht.
Doch seit einiger Zeit beschränkt sich die Berichterstattung darauf, ver.di zu Wort kommen zu lassen, ohne Amazons Sprecher überhaupt zu kontaktieren. Hier muss ich aus Erfahrung anmerken, dass Amazons Sprecher sehr schnell reagieren und durchaus bereit sind, Antworten zu geben. Man mag diese Antworten für Worthülsen halten, ihre Aussagekraft anzweifeln oder ihren Wahrheitsgehalt - aber ignoriert werden sollten sie bei einer Berichterstattung nicht.
Denn die gleichen Zweifel könnten auch bei ver.di angemeldet werden da beide Seiten natürlich ihre Ansichten vertreten und nicht von sich sagen, unparteiisch zu sein. Unparteiisch sollte in dem Fall, so es sich nicht um Meinungsjournalisms handelt, eben die Berichterstattung sein, die beiden Seiten die Möglichkeit zur Stellungnahme geben und dann ggf. durch Kommentare usw. die Gesamtumstände beleuchten sollte.
Wer aber derzeit die Artikel zum Thema "Streiks bei Amazon" durchliest, findet fast durchgängig Verweise auf das, was ein ver.di-Sprecher verlautbarte. Eine Streikankündigung wird medial sogar zum "Amazon-Mitarbeiter streiken" aufgebläht, obgleich noch keine tatsächlichen Streiks stattfanden, als diese Meldung kam. Zu Beginn der Streiks werden selten Zahlen herausgeben - doch sobald ver.di Zahlen veröffentlicht, sollte Amazon wenigstens ebenfalls befragt und dem Leser zugemutet werden können, sich selbst ein Bild zu machen.