Das Menschenbild, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung

Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sind mehr vom Menschenbild bestimmt, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Mit grundlegenden Folgen. Eine Spurensuche (Teil 2 und Schluss)

In "Die existentielle Bedeutung des Menschenbildes", dem ersten Teil dieses zweiteiligen Artikels wurde ausführlich dargestellt, inwiefern Gesellschaft, Wirtschaft und Politik heute durch ein Menschenbild bestimmt sind, das von der Überzeugung ausgeht, der Mensch sei von Natur aus egoistisch und konkurrenzorientiert. Hier werfen wir nun einen Blick auf die Realität.

Zahlreiche Theorien, die konkrete Entscheidungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft nach sich zogen, basieren auf der Überzeugung, der Mensch sei von Natur aus ein Egoist und Konkurrenzwesen, Trittbrettfahren sei daher seine Lieblingsbeschäftigung und Eigenverantwortung, der bewusste Schritt zur Unabhängigkeit die einzig vernünftige Präventivmaßnahme, um nicht als Ehrlicher der Dumme sein zu müssen. Aber wie bestehen diese Theorien eigentlich den Test mit der Wirklichkeit?

Die Wirklichkeit widersetzt sich der Theorie der Wirklichkeit I

1968, im selben Jahr als Garrett Hardin seinen bahnbrechenden Artikel über die Tragödie der Allmende schrieb, der eine zentrale Rolle im ersten Teil dieses Artikels spielte, musste das britische Gesundheitswesen einen Engpass bei den Blutspenden feststellen. Deshalb gab sie eine Forschung in Auftrag, ob Menschen als Motivation für ihre Blutspende bezahlt werden sollten. Der Soziologe Richard Titmuss verglich daraufhin die Statistiken der Blutspenden in Großbritannien mit den entsprechenden Zahlen der USA, wo einige Bundesländer verschiedene Formen finanzieller Anreize für Blutspenden anboten.

Das Ergebnis war erstaunlich: Finanzielle Anreize bei Blutspenden reduzierte die Anzahl der Freiwilligen. Eine Umfrage ergab, dass nicht einmal zwei Prozent der Blutspender eine Gegenleistung erwarten. Fast alle Spender erklärten, schlicht anderen Menschen helfen zu wollen, die auf eine Blutspende angewiesen waren.

Es kann kaum überraschen, dass Titmuss Studie einen Sturm der Entrüstung in der Wirtschaftswissenschaft auslöste. Widersprachen die Ergebnisse doch zutiefst nicht nur dem Allheilmittel des Anreizes, sondern auch den grundsätzlichen Bedenken, die gegenüber dem Altruismus ins Feld geführt wurden, denn gemäß der weitverbreiteten Meinung konnte es ja einen echten, nicht vom Eigeninteresse geleiteten Altruismus gar nicht oder zumindest nur als seltene Ressource geben. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Kenneth Arrow rezensierte Titmuss Werk ausführlich und warnte:

Wie viele Ökonomen möchte ich nicht allzu sehr davon abhängig sein, dass Eigeninteresse durch Ethik ersetzt wird. Ich halte es insgesamt gesehen für das Beste, den Bedarf an ethischem Verhalten auf die Umstände zu beschränken, in denen das Preissystem zusammenbricht … Wir möchten die raren Vorräte an altruistischen Motiven nicht rücksichtslos verbrauchen.

Zudem betonte er:

Ökonomen halten es normalerweise für gegeben, dass die Einrichtung eines Marktes, weil sie die Auswahl des Einzelnen vergrößert, automatisch mehr Vorteile bietet. Wenn wir also ein freiwilliges System der Blutspenden um die Möglichkeit erweitern, Blut zu verkaufen, haben wir lediglich die Alternativen des Einzelnen vergrößert. Wenn es ihn befriedigt, Blut zu spenden, so heißt es, kann er weiterhin spenden, denn dieses Recht ist in keiner Weise beeinträchtigt worden.

Arrow fragte etwas sprachlos: "Warum sollte die Schaffung eines Marktes für Blut den in der Blutspende verkörperten Altruismus mindern?"

Auch vierzig Jahre nach der Studie von Richard Titmuss haben seine Ergebnisse dem Test der Zeit Stand gehalten. Menschen wünschen sich, aus altruistischen Motiven Blut zu spenden. Eine Reduzierung dieses Aktes auf eine zu vergütende Arbeitsleistung lehnt nicht nur die Mehrheit ab, da es ehrlichen Altruismus auf die Stufe einer bezahlbaren Ware reduzieren würde, sondern allein das Gefühl, die Spende könnte vergütet werden, korrumpiert den Altruismus. Der Philosoph Michael Sandel betont:

Die ökonomische Theorie neigt dazu, alle Motivationen ungeachtet ihrer Art oder ihres Ursprungs gleich zu behandeln und zu unterstellen, dass sie sich addieren. Doch damit entgeht ihr der zersetzende Effekt des Geldes.

Die Wirklichkeit widersetzt sich der Wirtschaftswissenschaft II

Die von Garret Hardin ohne Bezug auf historische Beispiele ausgerufene "Tragödie der Allmende", die einzig auf der wirtschaftswissenschaftlichen Logik des zu erwartenden Trittbrettfahrers basiert, wurde von der Wirtschafsnobelpreisträgerin Elinor Ostroms vehement kritisiert. Ostrom, die lebenslang über die Allmende geforscht hat, präsentierte - im Gegensatz zu Hardin - zahlreiche Beispielen von Völkern, die Vereinbarungen nach genossenschaftlichem Prinzip geschlossen haben.

Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist das spanische Bewässerungssystem der "Huertas" (deutsch: Gärten). Es funktioniert in wasserarmen Regionen Spaniens seit weit über 500 Jahren. Die Nutzer treffen sich regelmäßig, sprechen die Regeln gemeinsam ab und benennen Wächter. Es gibt praktisch keine Trittbrettfahrer. Beispielsweise gibt es in der Region von Valencia nur 0,008 Prozent illegaler Wasserabzapfung. Die Historikerin Susan Buck Cox bemerkt:

Möglicherweise gab es in Wahrheit gar nicht die 'Tragik der Allmende', sondern vielmehr ihren Triumph: Über Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende (…) wurde das Land erfolgreich von den Gemeinschaften verwaltet.

Offenbar, so lässt sich mutmaßen, stützt sich die Tragik der Allmende eher auf ein negatives Menschenbild als auf eine Reflexion der menschlichen Realität und der menschlichen Geschichte mit tatsächlichen Bezügen und Erfahrungen.

Die Wirklichkeit widersetzt sich der Wirtschaftswissenschaft III

Das bereits im ersten Teil erwähnte System der "Forced Distribution", das Jack Welch mit General Electric und viele weitere multinationale Unternehmen angewandt haben, mag vielleicht auf betriebswirtschaftliche Augen absolut logisch sein, hält jedoch keinem wissenschaftlichen Test stand. Ein Experiment des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit zeigt, dass sich die Probanden tatsächlich mehr anstrengen, um Teamkollegen zu übertreffen. Dabei wählen sie aber auch den einfachsten Weg: Sie sabotieren ihre Teamkollegen. Folglich sinkt die Produktivität der Gruppe insgesamt. Die meisten multinationalen Unternehmen haben den Einsatz von "Forced Distribution" mit Beginn der 2000er Jahre beendet.