Das Menschenbild, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung

Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sind mehr vom Menschenbild bestimmt, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Mit grundlegenden Folgen. Eine Spurensuche (Teil 2 und Schluss)

In "Die existentielle Bedeutung des Menschenbildes", dem ersten Teil dieses zweiteiligen Artikels wurde ausführlich dargestellt, inwiefern Gesellschaft, Wirtschaft und Politik heute durch ein Menschenbild bestimmt sind, das von der Überzeugung ausgeht, der Mensch sei von Natur aus egoistisch und konkurrenzorientiert. Hier werfen wir nun einen Blick auf die Realität.

Zahlreiche Theorien, die konkrete Entscheidungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft nach sich zogen, basieren auf der Überzeugung, der Mensch sei von Natur aus ein Egoist und Konkurrenzwesen, Trittbrettfahren sei daher seine Lieblingsbeschäftigung und Eigenverantwortung, der bewusste Schritt zur Unabhängigkeit die einzig vernünftige Präventivmaßnahme, um nicht als Ehrlicher der Dumme sein zu müssen. Aber wie bestehen diese Theorien eigentlich den Test mit der Wirklichkeit?

Die Wirklichkeit widersetzt sich der Theorie der Wirklichkeit I

1968, im selben Jahr als Garrett Hardin seinen bahnbrechenden Artikel über die Tragödie der Allmende schrieb, der eine zentrale Rolle im ersten Teil dieses Artikels spielte, musste das britische Gesundheitswesen einen Engpass bei den Blutspenden feststellen. Deshalb gab sie eine Forschung in Auftrag, ob Menschen als Motivation für ihre Blutspende bezahlt werden sollten. Der Soziologe Richard Titmuss verglich daraufhin die Statistiken der Blutspenden in Großbritannien mit den entsprechenden Zahlen der USA, wo einige Bundesländer verschiedene Formen finanzieller Anreize für Blutspenden anboten.

Das Ergebnis war erstaunlich: Finanzielle Anreize bei Blutspenden reduzierte die Anzahl der Freiwilligen. Eine Umfrage ergab, dass nicht einmal zwei Prozent der Blutspender eine Gegenleistung erwarten. Fast alle Spender erklärten, schlicht anderen Menschen helfen zu wollen, die auf eine Blutspende angewiesen waren.

Es kann kaum überraschen, dass Titmuss Studie einen Sturm der Entrüstung in der Wirtschaftswissenschaft auslöste. Widersprachen die Ergebnisse doch zutiefst nicht nur dem Allheilmittel des Anreizes, sondern auch den grundsätzlichen Bedenken, die gegenüber dem Altruismus ins Feld geführt wurden, denn gemäß der weitverbreiteten Meinung konnte es ja einen echten, nicht vom Eigeninteresse geleiteten Altruismus gar nicht oder zumindest nur als seltene Ressource geben. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Kenneth Arrow rezensierte Titmuss Werk ausführlich und warnte:

Wie viele Ökonomen möchte ich nicht allzu sehr davon abhängig sein, dass Eigeninteresse durch Ethik ersetzt wird. Ich halte es insgesamt gesehen für das Beste, den Bedarf an ethischem Verhalten auf die Umstände zu beschränken, in denen das Preissystem zusammenbricht … Wir möchten die raren Vorräte an altruistischen Motiven nicht rücksichtslos verbrauchen.

Zudem betonte er:

Ökonomen halten es normalerweise für gegeben, dass die Einrichtung eines Marktes, weil sie die Auswahl des Einzelnen vergrößert, automatisch mehr Vorteile bietet. Wenn wir also ein freiwilliges System der Blutspenden um die Möglichkeit erweitern, Blut zu verkaufen, haben wir lediglich die Alternativen des Einzelnen vergrößert. Wenn es ihn befriedigt, Blut zu spenden, so heißt es, kann er weiterhin spenden, denn dieses Recht ist in keiner Weise beeinträchtigt worden.

Arrow fragte etwas sprachlos: "Warum sollte die Schaffung eines Marktes für Blut den in der Blutspende verkörperten Altruismus mindern?"

Auch vierzig Jahre nach der Studie von Richard Titmuss haben seine Ergebnisse dem Test der Zeit Stand gehalten. Menschen wünschen sich, aus altruistischen Motiven Blut zu spenden. Eine Reduzierung dieses Aktes auf eine zu vergütende Arbeitsleistung lehnt nicht nur die Mehrheit ab, da es ehrlichen Altruismus auf die Stufe einer bezahlbaren Ware reduzieren würde, sondern allein das Gefühl, die Spende könnte vergütet werden, korrumpiert den Altruismus. Der Philosoph Michael Sandel betont:

Die ökonomische Theorie neigt dazu, alle Motivationen ungeachtet ihrer Art oder ihres Ursprungs gleich zu behandeln und zu unterstellen, dass sie sich addieren. Doch damit entgeht ihr der zersetzende Effekt des Geldes.

Die Wirklichkeit widersetzt sich der Wirtschaftswissenschaft II

Die von Garret Hardin ohne Bezug auf historische Beispiele ausgerufene "Tragödie der Allmende", die einzig auf der wirtschaftswissenschaftlichen Logik des zu erwartenden Trittbrettfahrers basiert, wurde von der Wirtschafsnobelpreisträgerin Elinor Ostroms vehement kritisiert. Ostrom, die lebenslang über die Allmende geforscht hat, präsentierte - im Gegensatz zu Hardin - zahlreiche Beispielen von Völkern, die Vereinbarungen nach genossenschaftlichem Prinzip geschlossen haben.

Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist das spanische Bewässerungssystem der "Huertas" (deutsch: Gärten). Es funktioniert in wasserarmen Regionen Spaniens seit weit über 500 Jahren. Die Nutzer treffen sich regelmäßig, sprechen die Regeln gemeinsam ab und benennen Wächter. Es gibt praktisch keine Trittbrettfahrer. Beispielsweise gibt es in der Region von Valencia nur 0,008 Prozent illegaler Wasserabzapfung. Die Historikerin Susan Buck Cox bemerkt:

Möglicherweise gab es in Wahrheit gar nicht die 'Tragik der Allmende', sondern vielmehr ihren Triumph: Über Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende (…) wurde das Land erfolgreich von den Gemeinschaften verwaltet.

Offenbar, so lässt sich mutmaßen, stützt sich die Tragik der Allmende eher auf ein negatives Menschenbild als auf eine Reflexion der menschlichen Realität und der menschlichen Geschichte mit tatsächlichen Bezügen und Erfahrungen.

Die Wirklichkeit widersetzt sich der Wirtschaftswissenschaft III

Das bereits im ersten Teil erwähnte System der "Forced Distribution", das Jack Welch mit General Electric und viele weitere multinationale Unternehmen angewandt haben, mag vielleicht auf betriebswirtschaftliche Augen absolut logisch sein, hält jedoch keinem wissenschaftlichen Test stand. Ein Experiment des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit zeigt, dass sich die Probanden tatsächlich mehr anstrengen, um Teamkollegen zu übertreffen. Dabei wählen sie aber auch den einfachsten Weg: Sie sabotieren ihre Teamkollegen. Folglich sinkt die Produktivität der Gruppe insgesamt. Die meisten multinationalen Unternehmen haben den Einsatz von "Forced Distribution" mit Beginn der 2000er Jahre beendet.

Neuere Forschung widerlegt zentrale Annahme

Die lange Zeit in der Evolutionsbiologie weit verbreitete Ansicht, dass sich in der Evolution stets die Egoisten durchsetzen würden, die Richard Dawkins ausdrücklich teilte, wurde in modernen hochkomplexen Computermodellen, die den Verlauf der Evolution nachbilden sollen, widerlegt.

Der Mathematiker und Biologe Martin A. Nowak von der Universität Harvard konnte anhand eines aufwendigen mathematischen Modells der Evolution nachweisen, dass egoistische Strategien zwar vorübergehend erfolgreicher sind, aber dann aussterben, wenn kooperative Strategien sich durchsetzen. Weitere Modelle bestätigen dieses Ergebnis. Denn es ist tatsächlich viel seltener so, dass eine Gruppe von Kooperatoren hilflos gegen das Eindringen von Egoisten ist, sondern im Gegenteil, wie Robert Axelrod schreibt:

Es ist am schwierigsten, in eine Population freundlicher Regeln einzudringen, weil freundliche Regeln miteinander so gut zurechtkommen.

Der naheliegende Gedanke, Altruismus und Kooperation könnten in der Evolution keinen Platz haben und gerade die Evolution an sich sei ein schlagender Beweis dafür, dass der Egoismus vorherrschend sei, erweist sich also als falsch.

Wissenschaft über Natur des Menschen

Es ist erstaunlich, dass es in den Wissenschaften sehr viele Annahmen über die Natur des Menschen gibt, aber ausgesprochen geringes Interesse an der Wissenschaft besteht, die sich tatsächlich mit der Frage der Natur des Menschen beschäftigt.

Stellt man die grundlegende Frage, welche Eigenschaft den Menschen besonders auszeichnet und seinen Erfolg in der Evolution erklärt, ist die Antwort nicht Egoismus und Konkurrenz, sondern im Gegenteil: Kooperation und Altruismus. Martin Nowak ist überzeugt, dass Kooperationsfähigkeit des Menschen der eigentliche Grund dafür ist, dass es Menschen auf fast jedem Flecken der Erde gelungen ist zu überleben.

Bei der mathematischen Berechnung der Evolution kommt er sogar zu der Erkenntnis, "dass der natürliche Prozess der Auslese, der die gewaltige Vielfalt an Leben - von Bakterien bis zu Tigern - entstehen ließ, tatsächlich schon in der Zeit wirkte, bevor Reproduktion, also die Fähigkeit, Kopien zu erstellen, erstmals auftauchte." Daher ist Kooperation sogar älter als das Leben. Für Nowak ist die Kooperation daher nichts Geringeres als der "Meisterarchitekt der Evolution".

Überraschenderweise stimmt auch Charles Darwin selber hiermit überein. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, er sei von der Konkurrenz als grundlegendes Prinzip der Evolution überzeugt, betonte er immer wieder Mitgefühl und Kooperation als die besonderen Eigenschaften des Menschen:

Denn Gemeinschaften, die die größte Zahl der am meisten sympathisierenden Mitglieder enthalten, werden am besten gedeihen und die meisten Nachkommen erzielen.

Die besondere Kooperation, die die Menschen innerhalb ihrer Gruppe auszeichnen und die in der Evolution weit vor der Entdeckung des Eigentums vorherrschte, dürfte auch der eigentliche Grund sein, weshalb es nicht zur Tragödie der Allmende kommen muss. Betrachtet man den Menschen bei seiner Geburt, ist es geradezu erstaunlich, wie man überhaupt auf den Gedanken verfallen kann, der Mensch sei von Natur aus ein Konkurrenzwesen. Die allererste und grundlegende Erfahrung des Menschen ist: Er muss unbedingt kooperieren, um zu überleben.

Kooperation ist sein Lebensmodus. Schon bei einjährigen Kindern kann belegt werden, dass sie von Natur aus kooperative Menschen vorziehen. Bereits im Alter von 14 bis 16 Monaten, also bevor Eltern ihren Kindern die Regeln sozialen Verhaltens gelehrt haben, verhalten sich Kinder nachweisbar kooperativ. Bemerkenswert ist auch, dass kooperatives Verhalten unabhängig vom Kulturkreis in der gleichen Altersstufe auftritt.

Aber was geschieht, wenn sich Kinder zwischen Kooperation und Konkurrenz entscheiden müssen? Genau dies wollte auch Michael Tomasello, ehemaliger Co-Direktor des Max-Planck-Instituts in Leipzig, herausfinden. In einer Reihe von Experimenten mit 14 bis 24 Monate alten Kleinkindern stellte er sie jeweils vor die Wahl, eine Aufgabe oder ein Spiel alleine oder gemeinsam durchzuführen. Zum Vergleich führte er dasselbe Experiment mit Schimpansen durch. Sein Ergebnis ist eindeutig:

Im Gegensatz zu Schimpansen kooperieren Kleinkinder zwischen 14 und 24 Monaten in der Spielsituation, als auch bei der Lösung instrumenteller Aufgaben. (…) Oft stecken sie sogar ihre Belohnung in ein Gerät, damit die Handlung von neuem beginnt.

Weitere Studien von Tomasello bestätigten das Ergebnis. Kleinkinder bevorzugten sehr stark die Gemeinschaftsoption, wohingegen Schimpansen immer dorthin gingen, wo es am meisten Futter gab.

Auch eine Studie von Forschern um Daniel Haun, die sowohl dreijährige Kindergartenkinder als auch Schimpansen zwischen einer kooperativen und einer nicht kooperativen Lösungsvariante wählen ließen, ist eindeutig: Mehr als drei Viertel aller Kinder entschieden sich, gemeinschaftlich die Aufgabe zu lösen, während hingegen den Schimpansen diese Wahl fast gleichgültig war.

Michael Tomasello bezeichnet daher den Menschen als "ultrakooperativ".

Gefahr epidemischer Ausbreitung des kapitalistischen Menschenbildes

Grundlegende Erkenntnisse und Erwägungen widersprechen also dem Bild des Menschen als Egoisten und Konkurrenzwesen. Dennoch breitet sich dieses Menschenbild immer weiter aus, und die darauf aufbauenden Entscheidungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen zunehmend das Leben. Jonathan Aldred, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Cambridge, der dieser Thematik ein ganzes Buch widmete, fasst die Entwicklung wie folgt zusammen:

Dies ist keine einfache Geschichte über Menschen, die sich wissentlich schlecht verhalten. Vielmehr geht es darum, dass wir in dem Glauben bestärkt wurden, bestimmte Verhaltensweisen und Aktivitäten seien akzeptabel, natürlich, rational, eingewoben in die Eigenlogik der Dinge - obwohl sie noch vor wenigen Generationen für dumm, befremdlich, schädlich oder einfach niederträchtig gehalten wurden. Es hat sich ein Wandel vollzogen in unserem Verständnis vieler Ideen und Wertvorstellungen, an denen wir unser Leben ausrichten: Ideen über Vertrauen, Gerechtigkeit, Fairness, Entscheidungsfreiheit und soziale Verantwortung - Ideen, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft zutiefst prägen.

Dieser Wandel geht jedoch tiefer, wie Aldred betont: "Die Wirtschaftswissenschaften scheinen unsere Entscheidungsmöglichkeiten einzuschränken. Darüber hinaus prägen sie die Fragen, die wir stellen, und die Probleme, die wir sehen. Welche Antworten akzeptabel sind, wird von unseren aus der Ökonomik abgeleiteten Moralvorstellungen beeinflusst." Das ökonomische Denken hat, wie von seinen Vertretern erhofft, die meisten Lebensbereiche des Menschen erreicht und kolonialisiert somit die ganze Gesellschaft, wie der Soziologe Meinhard Miegel ernüchtert feststellt:

Die Folgen dieser Verstümmelung sind verheerend, zumal die Maxime ungezügelten Eigennutzes vom Wirtschaftsbereich schnell auf andere Lebensbereiche übersprang. Die heute alles dominierende Frage lautet: Was nützt mir? Nicht nur in der Wirtschaft sondern auch in zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Schule oder auch am Arbeitsplatz, im Schwimmbad oder an der Supermarktkasse - überall heißt es: Welchen Vorteil habe ich davon?

Pluralistische Ignoranz

Die gravierenden Folgen, die die sich ausbreitende Überzeugung, der Mensch sei von Natur aus ein Egoist und Konkurrenzwesen, zeigen sich auch darin, wie sehr diese Überzeugung mittlerweile auch unser privates Denken und Verhalten bestimmt. Oftmals liegen Menschen bei der Einschätzung fundamentaler menschlicher Eigenschaften falsch, soweit es darum geht, das Verhalten der Menschen zutreffend vorauszusagen.

Wurden Probanden beispielsweise befragt, ob ihre eigene Bereitschaft für eine prosoziale Handlung von einem finanziellen Anreiz abhängig wäre und wie sie den Einfluss eines finanziellen Anreizes auf diese Handlung bei den Menschen generell einschätzen würden, so ergab sich ein vielsagender Widerspruch: Auch wenn sich bei den Probanden das Angebot eines finanziellen Anreizes nur gering auf ihre eigene Bereitschaft zu einer prosozialen Handlung auswirkte, waren die Befragten insgesamt dennoch zutiefst davon überzeugt, dass das in Aussicht stehende Geld einen sehr wohl einen deutlichen Einfluss auf die Bereitschaft für verschiedene prosoziale Handlungen haben würden. Ihre Annahme über die Einstellung der Menschen war aber grundlegend falsch.

Die Tatsache, dass sie selber zumeist zu der prosozialen Handlung unabhängig einer finanziellen Belohnung bereit waren, bewahrte sie nicht vor einer Fehleinschätzung im Hinblick auf die Allgemeinheit. Diese Diskrepanz nennt man in der Sozialpsychologie Pluralistische Ignoranz.

Rutger Bregman fragt daher:

Könnte unser negatives Menschenbild auch eine Form der pluralistischen Ignoranz sein? Unterstellen wir, dass die meisten Menschen egoistisch sind, weil wir davon ausgehen, dass die anderen das Gleiche denken?

Wie die Erwartungshaltung das Verhalten bestimmen kann

"Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich." So lautet das sogenannte Thomas-Theorem, welches die beiden Soziologen W. I. Thomas und D. S. Thomas vor fast hundert Jahren formulierten. Diese sozialpsychologische These bezeichnet die Abhängigkeit des eigenen Verhaltens von der jeweiligen Definition der einzelnen Situation.

Das Menschenbild kann hierfür als ein mögliches Beispiel dienen. Denn die vermutete Erwartungshaltung anderer Menschen gegenüber dem Einzelnen hat eine beträchtliche Auswirkung auf sein Verhalten. Der Wirtschaftswissenschaftler Erich Fehr leitete einige Studien zu diesem Thema und fasst deren Ergebnisse pointiert zusammen:

Wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen kooperieren, dann ist die Kooperation jedes Einzelnen hoch; wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen nicht kooperieren, dann kooperiert tatsächlich keiner.

Soziale Norm

Das Menschenbild kann sogar wie eine soziale Norm wirken. In diesem Fall hat die vermutete Erwartungshaltung der Mitmenschen einen solchen Einfluss, dass Menschen sich sogar genau entgegen der eigenen Ansicht verhalten können, um der Gruppenerwartung und damit der sozialen Norm zu entsprechen. So entscheiden sich die Menschen für ein egoistisches Verhalten, obwohl sie selber die altruistische Verhaltensweisel vorziehen, weil sie eben überzeugt sind, dies würde allgemein erwartet, sei die soziale Norm. Das Spannungsfeld zwischen der angenommenen sozialen Norm des Menschenbildes und dem Verhalten des Einzelnen kann noch zu weiteren Konsequenzen führen.

So reagierten Menschen in den USA, die nach Begründungen für eine eigene altruistische Tat, gefragt wurden, oftmals mit einer Antwort, in der sie egoistische Motive anführten. In einigen Fällen konnte dies sogar so weit führen, dass sich die Befragten in ihrem Bestreben eine altruistische Tat durch egoistische Motive gleichermaßen zu rechtfertigen, in unüberbrückbare Widersprüche verstrickten. Die Forscher schlossen hieraus, dass das Menschenbild so sehr als soziale Norm wirkt, dass die Menschen eher die Motivationen angeben, von denen sie ausgehen, dass sie der sozialen Norm entsprechen, als ihre eigentlichen Motive.

Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung

Aus dem Gesagten folgert zwangsläufig, dass die soziale Norm, die das Menschenbild darstellen kann, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Herrscht beispielsweise die Überzeugung, der Mensch sei von Natur aus egoistisch, steigert dies die Erwartung, dass sich Menschen generell egoistisch verhalten, also ein egoistisches Verhalten zu erwarten ist. Zudem wird auch als präventive Maßnahme auf den zu erwartenden Egoismus, den der Mensch erfahren wird, der Mensch sich entsprechend egoistisch verhalten, um nicht selber ausgenutzt zu werden. Er wird präventiv Trittbrettfahrer, um nicht Gefahr zu laufen, als Ehrlicher der Dumme zu sein.

"Es ist die bekannte Tragödie des 21. Jahrhunderts: Die Menschen passen ihr Verhalten dem zynischen, misstrauischen Bild, das Ökonomen von ihnen haben, an. Die Überzeugung, dass 'jeder Mensch käuflich ist', wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung," fasst Jonathan Aldred diese Geschichte der Entwicklung dieses Menschenbildes zusammen.

Der Mensch täuscht sich über seine eigene Natur

Die wiederholt aufgezeigte Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und der Einschätzung seiner Mitmenschen bestätigen auch zahlreiche aktuelle Umfragen, die bestätigen, wie sehr Menschen sich über ihre Mitmenschen im Besonderen und über die Natur des Menschen im Allgemeinen täuschen.

Eine britische Studie aus dem Jahr 2016 beispielsweise ergab, dass knapp drei Viertel der Befragten "mehr Wert auf mitfühlende Werte als auf egoistische Werte legen." Unabhängig von Alter, Geschlecht, Region oder politischer Überzeugung. Befragte man die Menschen jedoch nach der Einschätzung ihrer Mitmenschen ergab sich ein gänzlich anderes Bild: 77 Prozent sind aber überzeugt, "dass ihre Mitbürger egoistische Werte für wichtiger und mitfühlende Werte für weniger wichtig halten, als es tatsächlich der Fall ist."

Die Konsequenzen dieser Fehleinschätzung sind gravierend, wie die diese Studie leitenden Wissenschaftler betonen: "Menschen, die diese ungenaue Meinung über die Werte anderer Menschen haben, sind deutlich weniger positiv, wenn es darum geht, sich zu engagieren - an Versammlungen teilzunehmen, zu wählen, sich ehrenamtlich zu betätigen. Diese Menschen berichten auch über eine größere soziale Entfremdung. Sie geben an, dass sie sich weniger für ihre Gemeinschaft verantwortlich fühlen und dass sie weniger das Gefühl haben, in die Gesellschaft zu passen - im Vergleich zu Bürgern, die eine genauere Vorstellung von den Werten einer typischen britischen Person haben."

Eine vergleichbare Diskrepanz zeigt sich auch in vielen Umfragen in Deutschland: Menschen nennen mit Abstand als wichtigste Aspekte des Lebens gute Freunde und enge Beziehungen zu anderen Menschen sowie dem Einsatz für die Familie und einer glücklichen Partnerschaft. Aber was die Menschen für das eigene Leben und das Zusammenleben wichtig erachten, widerspricht diametral ihrer Einschätzung, was ihre Mitmenschen für wichtig erachten. Denn mehr als 80 Prozent sind überzeugt, dass sich die meisten Leute in Wirklichkeit gar nicht darum kümmern, was mit ihren Mitmenschen geschieht.

Es ist, so scheint es, die große Tragödie des Bildes vom Menschen, dass die große Mehrheit sich in Wirklichkeit nach Altruismus und Kooperation sehnt, aber davon überzeugt ist, mit diesem Wunsch alleine dazustehen, ohne zu bemerken, dass sie sich grundlegend täuschen. Wie über so vieles im Hinblick auf das Menschenbild.

Zurück zum Menschen

Die in die Tiefe gehende Untersuchung der wahren Natur des Menschen gehört unbedingt wieder in das Zentrum des öffentlichen Interesses und des öffentlichen Diskurses, um endlich weitere schädliche Nebenwirkungen und immer mehr selbst erfüllende Prophezeiungen eines unzutreffenden Menschenbildes zu verhindern.

Es kann kaum hilfreich sein, dass Schüler und Studenten mehr über den Homo Oeconomicus Bescheid wissen als über die wahre Natur des Menschen. Dazu würde grundsätzlich auch gehören, Charles Darwin und Adam Smith nicht nur einseitig zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch beispielsweise, was Adam Smith, Professor für Ethik, zu Beginn des Buches schreibt, das er als sein Hauptwerk ansah:

Viel für andere und wenig für uns selbst zu fühlen, unsere Selbstsucht zu zügeln und unsere wohltätigen Neigungen auszuüben, das macht die Vollkommenheit der menschlichen Natur aus.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".

Literatur

Jonathan Aldred: Der korrumpierte Mensch.

Robert Axelrod: Die Evolution der Kooperation.

Rutger Bregman: Im Grunde gut.

Martin A. Nowak: Kooperative Intelligenz

Richard David Precht: Die Kunst, kein Egoist zu sein.

Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe.

Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann.

Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral.

Claas Triebel und Tobias Hüter: Die Kunst des kooperativen Handelns.

Robert Wuthnow: Acts of Compassion.