Das Menschenbild, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung

Seite 3: Wie die Erwartungshaltung das Verhalten bestimmen kann

"Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich." So lautet das sogenannte Thomas-Theorem, welches die beiden Soziologen W. I. Thomas und D. S. Thomas vor fast hundert Jahren formulierten. Diese sozialpsychologische These bezeichnet die Abhängigkeit des eigenen Verhaltens von der jeweiligen Definition der einzelnen Situation.

Das Menschenbild kann hierfür als ein mögliches Beispiel dienen. Denn die vermutete Erwartungshaltung anderer Menschen gegenüber dem Einzelnen hat eine beträchtliche Auswirkung auf sein Verhalten. Der Wirtschaftswissenschaftler Erich Fehr leitete einige Studien zu diesem Thema und fasst deren Ergebnisse pointiert zusammen:

Wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen kooperieren, dann ist die Kooperation jedes Einzelnen hoch; wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen nicht kooperieren, dann kooperiert tatsächlich keiner.

Soziale Norm

Das Menschenbild kann sogar wie eine soziale Norm wirken. In diesem Fall hat die vermutete Erwartungshaltung der Mitmenschen einen solchen Einfluss, dass Menschen sich sogar genau entgegen der eigenen Ansicht verhalten können, um der Gruppenerwartung und damit der sozialen Norm zu entsprechen. So entscheiden sich die Menschen für ein egoistisches Verhalten, obwohl sie selber die altruistische Verhaltensweisel vorziehen, weil sie eben überzeugt sind, dies würde allgemein erwartet, sei die soziale Norm. Das Spannungsfeld zwischen der angenommenen sozialen Norm des Menschenbildes und dem Verhalten des Einzelnen kann noch zu weiteren Konsequenzen führen.

So reagierten Menschen in den USA, die nach Begründungen für eine eigene altruistische Tat, gefragt wurden, oftmals mit einer Antwort, in der sie egoistische Motive anführten. In einigen Fällen konnte dies sogar so weit führen, dass sich die Befragten in ihrem Bestreben eine altruistische Tat durch egoistische Motive gleichermaßen zu rechtfertigen, in unüberbrückbare Widersprüche verstrickten. Die Forscher schlossen hieraus, dass das Menschenbild so sehr als soziale Norm wirkt, dass die Menschen eher die Motivationen angeben, von denen sie ausgehen, dass sie der sozialen Norm entsprechen, als ihre eigentlichen Motive.

Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung

Aus dem Gesagten folgert zwangsläufig, dass die soziale Norm, die das Menschenbild darstellen kann, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Herrscht beispielsweise die Überzeugung, der Mensch sei von Natur aus egoistisch, steigert dies die Erwartung, dass sich Menschen generell egoistisch verhalten, also ein egoistisches Verhalten zu erwarten ist. Zudem wird auch als präventive Maßnahme auf den zu erwartenden Egoismus, den der Mensch erfahren wird, der Mensch sich entsprechend egoistisch verhalten, um nicht selber ausgenutzt zu werden. Er wird präventiv Trittbrettfahrer, um nicht Gefahr zu laufen, als Ehrlicher der Dumme zu sein.

"Es ist die bekannte Tragödie des 21. Jahrhunderts: Die Menschen passen ihr Verhalten dem zynischen, misstrauischen Bild, das Ökonomen von ihnen haben, an. Die Überzeugung, dass 'jeder Mensch käuflich ist', wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung," fasst Jonathan Aldred diese Geschichte der Entwicklung dieses Menschenbildes zusammen.

Der Mensch täuscht sich über seine eigene Natur

Die wiederholt aufgezeigte Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und der Einschätzung seiner Mitmenschen bestätigen auch zahlreiche aktuelle Umfragen, die bestätigen, wie sehr Menschen sich über ihre Mitmenschen im Besonderen und über die Natur des Menschen im Allgemeinen täuschen.

Eine britische Studie aus dem Jahr 2016 beispielsweise ergab, dass knapp drei Viertel der Befragten "mehr Wert auf mitfühlende Werte als auf egoistische Werte legen." Unabhängig von Alter, Geschlecht, Region oder politischer Überzeugung. Befragte man die Menschen jedoch nach der Einschätzung ihrer Mitmenschen ergab sich ein gänzlich anderes Bild: 77 Prozent sind aber überzeugt, "dass ihre Mitbürger egoistische Werte für wichtiger und mitfühlende Werte für weniger wichtig halten, als es tatsächlich der Fall ist."

Die Konsequenzen dieser Fehleinschätzung sind gravierend, wie die diese Studie leitenden Wissenschaftler betonen: "Menschen, die diese ungenaue Meinung über die Werte anderer Menschen haben, sind deutlich weniger positiv, wenn es darum geht, sich zu engagieren - an Versammlungen teilzunehmen, zu wählen, sich ehrenamtlich zu betätigen. Diese Menschen berichten auch über eine größere soziale Entfremdung. Sie geben an, dass sie sich weniger für ihre Gemeinschaft verantwortlich fühlen und dass sie weniger das Gefühl haben, in die Gesellschaft zu passen - im Vergleich zu Bürgern, die eine genauere Vorstellung von den Werten einer typischen britischen Person haben."

Eine vergleichbare Diskrepanz zeigt sich auch in vielen Umfragen in Deutschland: Menschen nennen mit Abstand als wichtigste Aspekte des Lebens gute Freunde und enge Beziehungen zu anderen Menschen sowie dem Einsatz für die Familie und einer glücklichen Partnerschaft. Aber was die Menschen für das eigene Leben und das Zusammenleben wichtig erachten, widerspricht diametral ihrer Einschätzung, was ihre Mitmenschen für wichtig erachten. Denn mehr als 80 Prozent sind überzeugt, dass sich die meisten Leute in Wirklichkeit gar nicht darum kümmern, was mit ihren Mitmenschen geschieht.

Es ist, so scheint es, die große Tragödie des Bildes vom Menschen, dass die große Mehrheit sich in Wirklichkeit nach Altruismus und Kooperation sehnt, aber davon überzeugt ist, mit diesem Wunsch alleine dazustehen, ohne zu bemerken, dass sie sich grundlegend täuschen. Wie über so vieles im Hinblick auf das Menschenbild.

Zurück zum Menschen

Die in die Tiefe gehende Untersuchung der wahren Natur des Menschen gehört unbedingt wieder in das Zentrum des öffentlichen Interesses und des öffentlichen Diskurses, um endlich weitere schädliche Nebenwirkungen und immer mehr selbst erfüllende Prophezeiungen eines unzutreffenden Menschenbildes zu verhindern.

Es kann kaum hilfreich sein, dass Schüler und Studenten mehr über den Homo Oeconomicus Bescheid wissen als über die wahre Natur des Menschen. Dazu würde grundsätzlich auch gehören, Charles Darwin und Adam Smith nicht nur einseitig zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch beispielsweise, was Adam Smith, Professor für Ethik, zu Beginn des Buches schreibt, das er als sein Hauptwerk ansah:

Viel für andere und wenig für uns selbst zu fühlen, unsere Selbstsucht zu zügeln und unsere wohltätigen Neigungen auszuüben, das macht die Vollkommenheit der menschlichen Natur aus.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".