Das Menschenbild, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung

Seite 2: Neuere Forschung widerlegt zentrale Annahme

Die lange Zeit in der Evolutionsbiologie weit verbreitete Ansicht, dass sich in der Evolution stets die Egoisten durchsetzen würden, die Richard Dawkins ausdrücklich teilte, wurde in modernen hochkomplexen Computermodellen, die den Verlauf der Evolution nachbilden sollen, widerlegt.

Der Mathematiker und Biologe Martin A. Nowak von der Universität Harvard konnte anhand eines aufwendigen mathematischen Modells der Evolution nachweisen, dass egoistische Strategien zwar vorübergehend erfolgreicher sind, aber dann aussterben, wenn kooperative Strategien sich durchsetzen. Weitere Modelle bestätigen dieses Ergebnis. Denn es ist tatsächlich viel seltener so, dass eine Gruppe von Kooperatoren hilflos gegen das Eindringen von Egoisten ist, sondern im Gegenteil, wie Robert Axelrod schreibt:

Es ist am schwierigsten, in eine Population freundlicher Regeln einzudringen, weil freundliche Regeln miteinander so gut zurechtkommen.

Der naheliegende Gedanke, Altruismus und Kooperation könnten in der Evolution keinen Platz haben und gerade die Evolution an sich sei ein schlagender Beweis dafür, dass der Egoismus vorherrschend sei, erweist sich also als falsch.

Wissenschaft über Natur des Menschen

Es ist erstaunlich, dass es in den Wissenschaften sehr viele Annahmen über die Natur des Menschen gibt, aber ausgesprochen geringes Interesse an der Wissenschaft besteht, die sich tatsächlich mit der Frage der Natur des Menschen beschäftigt.

Stellt man die grundlegende Frage, welche Eigenschaft den Menschen besonders auszeichnet und seinen Erfolg in der Evolution erklärt, ist die Antwort nicht Egoismus und Konkurrenz, sondern im Gegenteil: Kooperation und Altruismus. Martin Nowak ist überzeugt, dass Kooperationsfähigkeit des Menschen der eigentliche Grund dafür ist, dass es Menschen auf fast jedem Flecken der Erde gelungen ist zu überleben.

Bei der mathematischen Berechnung der Evolution kommt er sogar zu der Erkenntnis, "dass der natürliche Prozess der Auslese, der die gewaltige Vielfalt an Leben - von Bakterien bis zu Tigern - entstehen ließ, tatsächlich schon in der Zeit wirkte, bevor Reproduktion, also die Fähigkeit, Kopien zu erstellen, erstmals auftauchte." Daher ist Kooperation sogar älter als das Leben. Für Nowak ist die Kooperation daher nichts Geringeres als der "Meisterarchitekt der Evolution".

Überraschenderweise stimmt auch Charles Darwin selber hiermit überein. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, er sei von der Konkurrenz als grundlegendes Prinzip der Evolution überzeugt, betonte er immer wieder Mitgefühl und Kooperation als die besonderen Eigenschaften des Menschen:

Denn Gemeinschaften, die die größte Zahl der am meisten sympathisierenden Mitglieder enthalten, werden am besten gedeihen und die meisten Nachkommen erzielen.

Die besondere Kooperation, die die Menschen innerhalb ihrer Gruppe auszeichnen und die in der Evolution weit vor der Entdeckung des Eigentums vorherrschte, dürfte auch der eigentliche Grund sein, weshalb es nicht zur Tragödie der Allmende kommen muss. Betrachtet man den Menschen bei seiner Geburt, ist es geradezu erstaunlich, wie man überhaupt auf den Gedanken verfallen kann, der Mensch sei von Natur aus ein Konkurrenzwesen. Die allererste und grundlegende Erfahrung des Menschen ist: Er muss unbedingt kooperieren, um zu überleben.

Kooperation ist sein Lebensmodus. Schon bei einjährigen Kindern kann belegt werden, dass sie von Natur aus kooperative Menschen vorziehen. Bereits im Alter von 14 bis 16 Monaten, also bevor Eltern ihren Kindern die Regeln sozialen Verhaltens gelehrt haben, verhalten sich Kinder nachweisbar kooperativ. Bemerkenswert ist auch, dass kooperatives Verhalten unabhängig vom Kulturkreis in der gleichen Altersstufe auftritt.

Aber was geschieht, wenn sich Kinder zwischen Kooperation und Konkurrenz entscheiden müssen? Genau dies wollte auch Michael Tomasello, ehemaliger Co-Direktor des Max-Planck-Instituts in Leipzig, herausfinden. In einer Reihe von Experimenten mit 14 bis 24 Monate alten Kleinkindern stellte er sie jeweils vor die Wahl, eine Aufgabe oder ein Spiel alleine oder gemeinsam durchzuführen. Zum Vergleich führte er dasselbe Experiment mit Schimpansen durch. Sein Ergebnis ist eindeutig:

Im Gegensatz zu Schimpansen kooperieren Kleinkinder zwischen 14 und 24 Monaten in der Spielsituation, als auch bei der Lösung instrumenteller Aufgaben. (…) Oft stecken sie sogar ihre Belohnung in ein Gerät, damit die Handlung von neuem beginnt.

Weitere Studien von Tomasello bestätigten das Ergebnis. Kleinkinder bevorzugten sehr stark die Gemeinschaftsoption, wohingegen Schimpansen immer dorthin gingen, wo es am meisten Futter gab.

Auch eine Studie von Forschern um Daniel Haun, die sowohl dreijährige Kindergartenkinder als auch Schimpansen zwischen einer kooperativen und einer nicht kooperativen Lösungsvariante wählen ließen, ist eindeutig: Mehr als drei Viertel aller Kinder entschieden sich, gemeinschaftlich die Aufgabe zu lösen, während hingegen den Schimpansen diese Wahl fast gleichgültig war.

Michael Tomasello bezeichnet daher den Menschen als "ultrakooperativ".

Gefahr epidemischer Ausbreitung des kapitalistischen Menschenbildes

Grundlegende Erkenntnisse und Erwägungen widersprechen also dem Bild des Menschen als Egoisten und Konkurrenzwesen. Dennoch breitet sich dieses Menschenbild immer weiter aus, und die darauf aufbauenden Entscheidungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen zunehmend das Leben. Jonathan Aldred, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Cambridge, der dieser Thematik ein ganzes Buch widmete, fasst die Entwicklung wie folgt zusammen:

Dies ist keine einfache Geschichte über Menschen, die sich wissentlich schlecht verhalten. Vielmehr geht es darum, dass wir in dem Glauben bestärkt wurden, bestimmte Verhaltensweisen und Aktivitäten seien akzeptabel, natürlich, rational, eingewoben in die Eigenlogik der Dinge - obwohl sie noch vor wenigen Generationen für dumm, befremdlich, schädlich oder einfach niederträchtig gehalten wurden. Es hat sich ein Wandel vollzogen in unserem Verständnis vieler Ideen und Wertvorstellungen, an denen wir unser Leben ausrichten: Ideen über Vertrauen, Gerechtigkeit, Fairness, Entscheidungsfreiheit und soziale Verantwortung - Ideen, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft zutiefst prägen.

Dieser Wandel geht jedoch tiefer, wie Aldred betont: "Die Wirtschaftswissenschaften scheinen unsere Entscheidungsmöglichkeiten einzuschränken. Darüber hinaus prägen sie die Fragen, die wir stellen, und die Probleme, die wir sehen. Welche Antworten akzeptabel sind, wird von unseren aus der Ökonomik abgeleiteten Moralvorstellungen beeinflusst." Das ökonomische Denken hat, wie von seinen Vertretern erhofft, die meisten Lebensbereiche des Menschen erreicht und kolonialisiert somit die ganze Gesellschaft, wie der Soziologe Meinhard Miegel ernüchtert feststellt:

Die Folgen dieser Verstümmelung sind verheerend, zumal die Maxime ungezügelten Eigennutzes vom Wirtschaftsbereich schnell auf andere Lebensbereiche übersprang. Die heute alles dominierende Frage lautet: Was nützt mir? Nicht nur in der Wirtschaft sondern auch in zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Schule oder auch am Arbeitsplatz, im Schwimmbad oder an der Supermarktkasse - überall heißt es: Welchen Vorteil habe ich davon?

Pluralistische Ignoranz

Die gravierenden Folgen, die die sich ausbreitende Überzeugung, der Mensch sei von Natur aus ein Egoist und Konkurrenzwesen, zeigen sich auch darin, wie sehr diese Überzeugung mittlerweile auch unser privates Denken und Verhalten bestimmt. Oftmals liegen Menschen bei der Einschätzung fundamentaler menschlicher Eigenschaften falsch, soweit es darum geht, das Verhalten der Menschen zutreffend vorauszusagen.

Wurden Probanden beispielsweise befragt, ob ihre eigene Bereitschaft für eine prosoziale Handlung von einem finanziellen Anreiz abhängig wäre und wie sie den Einfluss eines finanziellen Anreizes auf diese Handlung bei den Menschen generell einschätzen würden, so ergab sich ein vielsagender Widerspruch: Auch wenn sich bei den Probanden das Angebot eines finanziellen Anreizes nur gering auf ihre eigene Bereitschaft zu einer prosozialen Handlung auswirkte, waren die Befragten insgesamt dennoch zutiefst davon überzeugt, dass das in Aussicht stehende Geld einen sehr wohl einen deutlichen Einfluss auf die Bereitschaft für verschiedene prosoziale Handlungen haben würden. Ihre Annahme über die Einstellung der Menschen war aber grundlegend falsch.

Die Tatsache, dass sie selber zumeist zu der prosozialen Handlung unabhängig einer finanziellen Belohnung bereit waren, bewahrte sie nicht vor einer Fehleinschätzung im Hinblick auf die Allgemeinheit. Diese Diskrepanz nennt man in der Sozialpsychologie Pluralistische Ignoranz.

Rutger Bregman fragt daher:

Könnte unser negatives Menschenbild auch eine Form der pluralistischen Ignoranz sein? Unterstellen wir, dass die meisten Menschen egoistisch sind, weil wir davon ausgehen, dass die anderen das Gleiche denken?