Wir müssen länger arbeiten

Um an Mittel fürs Leben zu kommen, braucht man im Kapitalismus Geld. Deshalb müssen es alle wollen – mit verheerenden Folgen für die Mehrheit. Das Geld, was sonst? (Teil 3 und Schluss)

Martin Werding sorgt sich – und ist glücklich. Der Bochumer Wirtschaftsprofessor hält die Lage im deutschen Sozialsystem für "dramatisch" – und freut sich, nun in den Sachverständigenrat der Bundesregierung berufen worden zu sein. Da kann man sich dann schon mal mit einer starken Ansage bei Politik und Kapital vorstellen1:

Die Lohnnebenkosten steigen so, dass Deutschland weniger wettbewerbsfähig wird und Jobs verloren gehen...(Deshalb – B.H.) brauchen (wir) ein höheres Rentenalter... (Es) sollte bis 2042/43 auf 68 Jahre steigen und bis 2054/55 auf 69.

Natürlich geht es auch hier ums Geld. Und zwar vornehmlich um das von Staat und Wirtschaft. Da tut sich ein "gewaltiges Finanzloch" auf, und die Unternehmen können kaum noch international konkurrieren, weil sie so viele Beiträge in die Sozialversicherungen zahlen müssen.

Was selbstverständlich dazu führt, dass sie dann eben Leute herausschmeißen müssen. Ganz normal in einer Gesellschaft, die auf Geldvermehrung beruht. Wenn aus den Arbeitnehmern kein Gewinn mehr herauszuholen ist, sind sie halt überflüssig

Den frisch gebackenen Wirtschaftsweisen Werding beschäftigt, wie in Zukunft die Renten finanziert werden können. Er stellt dazu demografische Daten gegenüber2:

Zur Jahrtausendwende kamen auf 100 Bürger im Berufsalter zwischen 15 und 64 Jahren 20 ältere Menschen. Heute sind es schon 30 Senioren. Und 2035 werden es bis zu 50 sein.

Was zur Folge habe, dass die nötigen Sozialbeiträge für Betriebe und Beschäftigte von aktuell 40 Prozent des Bruttogehalts bis 2035 auf 48 Prozent steigen müssten.

Renten-"Versicherung" – ohne Geld-zurück-Garantie

Sicher wird der Professor das ganz genau ausgerechnet haben. Ist ja auch einfach: Wenn weniger Berufstätige die Renten von immer mehr nicht Berufstätigen bezahlen sollen, klappt das irgendwann nicht mehr. Aber Moment mal – es handelt sich doch um eine Renten-Versicherung? Also um eine vereinbarte Leistung in Verbindung mit eingezahlten Beiträgen über einen festgelegten Zeitraum? Weit gefehlt.

Der Sozialstaat behält sich die Höhe der Renten vor, macht sie von der Entwicklung bei Löhnen und Gehältern abhängig. Und er finanziert die Rentenzahlungen nicht aus den individuellen Beiträgen über die Lebensarbeitszeit. Sondern aus den Beiträgen der Berufstätigen.

Wenn daher die aktuellen Beiträge nicht zur Finanzierung der aktuellen Rentner genügen, hat die Rentenkasse ein Problem. Umgekehrt ist es natürlich schöner – weitestgehende Vollbeschäftigung, und die Kasse füllt sich über die nötigen Maßen. Dann fließt dieses Geld in andere Teile des Staatshaushalts (ausführlicher dazu siehe auf Telepolis: Die Rentenlegenden).

Aufgrund seiner Rechnung befürchtet Werding eine nötige Anhebung der Rentenbeiträge. Die Auswirkungen fallen indes sehr unterschiedlich aus: Den Unternehmen kostet ihre Belegschaften dann etwas mehr. Sie müssen schauen, wie sie dies auf ihre Preise umlegen können. Gelingt dies nicht oder nur teilweise, schmälert das ihren Gewinn. Das ist natürlich schlecht und sollte unbedingt vermieden werden.

Die Beschäftigten indes haben noch weniger Netto vom Brutto auf ihrem Konto. Sie können nichts weitergeben oder entbehren. Für sie bedeuten höhere Beiträge unmittelbar Verlust an verfügbarem Geld, mithin an Lebensstandard.

Das Problem mit den Renten haben nicht die Rentner, sondern der Staat

In der Kategorie der Arbeitnehmer denkt aber der Professor in erster Linie nicht. Ihm geht es um das große Ganze, Politikberater, der er nun auch offiziell ist. Da ist es ein Unding, dass der Staat schon jetzt "fast 100 Milliarden Euro Steuermittel jährlich" in die Rentenkasse zahlen müsse.

Denn das Geld wird doch tatsächlich einfach so konsumiert von den Rentenempfängern – statt es sinnvoller auszugeben für Investionsförderung, Forschung, Digitalisierung oder aktuell eine Menge Aufrüstung; und was die Betriebe alles mit ihrer Hälfte der Sozialbeiträge anstellen könnten!

Nun plädiert der Wirtschaftsweise nicht für eine Abschaffung des Rentensystems. Um dessen Sinn und Notwendigkeit weiß er durchaus. Sondern er will dessen Kosten bremsen. Daher der Vorschlag, dass die Leute ein paar Arbeitsjahre dranhängen zu den schon jetzt verlängerten Zeiten. "Wenn wir länger leben, können wir länger arbeiten. Jedenfalls jene, die gesund bleiben", schickt er hinterher.

Wer mit dem "wir" gemeint ist, erläutert er nicht weiter. Natürlich alle, die arbeiten müssen, weil sie keine anderen für sich arbeiten lassen können. Letztere Spezies, Kapitalisten aller Art und ihre bestbezahlten Agenten, sprich Manager, können nämlich sehr frei entscheiden, wann sie den Ruhestand antreten.

Die Rente – ein einziger ungemütlicher Zwang

Der größere Teil der Deutschen, "wir", sieht sich hingegen harten Zwängen gegenüber. Der eine Zwang besteht schlicht in der Gewalt des Staates. Mit ihr wird das Renteneintrittsalter und die Rentenhöhe unumstößlich festgelegt. Die sich aus der Rentenformel individuelle ergebende Menge Geld im Monat entscheidet über den Lebensstandard für den Rest des Lebens.

Der weitere Zwang: Früher in Rente gehen, weil man noch was halbwegs gesund erleben will, kostet einige Euros – länger arbeiten unter Umständen das Leben.

Auf jeden Fall, Zwang Nummer Drei, haben Arbeitnehmer ihr Berufsleben lang Beiträge für die Rentenversicherung zu leisten. Die werden ihnen von Lohn und Gehalt automatisch abgezogen. Eine Auskunft über die notorische Armut von abhängig Beschäftigten: Sie häufen in ihrem Berufsleben keine Reichtümer auf, die ihnen im Alter eine sorgenfreie Existenz sichern.

Damit die meisten von ihnen dennoch nicht auf der Straße landen, organisiert der Staat ja diese Zwangsversicherung. Und schießt Geld zu, falls das Aufkommen nicht genügt.

Das hat der Wissenschaftler wirklich schlau überlegt: Wenn weniger Bürger aktuell in die Rentenversicherung einzahlen als früher, und sie demnächst noch weniger werden, dann müssen die einfach länger einzahlen. Außerdem beanspruchen sie die Rentenkasse für entsprechend kürzere Zeit – Leben dauert Gott sei Dank ja nicht ewig.

Das spart also doppelt den nötigen staatlichen Zuschuss. Zynisch ist das selbstredend nicht, sondern gilt als seriöser und sachlicher Vorschlag, auf den übrigens Werding kein Monopol in seiner Zunft hat. Ein deutscher Ökonom kümmert sich heutzutage darum, dass Staat und Kapital möglichst optimal funktionieren.

Eine unabhängige Analyse des vorhandenen Wirtschaftssystems ist von diesen Parteigängern des Hier und Jetzt nicht zu bekommen. Dann müssten sie ja glatt wissen, was Geld ist – und es womöglich wegen seiner verheerenden Wirkungen kritisieren (was zum Beispiel Wolfgang Möhl und Theo Wentzke in ihrem Buch "Das Geld" tun3).