1992-95: Was einstige Geheimakten über die fast vergessene Nato-Russland-Annäherung verraten

Putin, Berlusconi, Bush bei einem Treffen im Rahmen des Nato-Russland-Gipfels, Pratica die mare, 28. Mai 2002

Putin, Berlusconi, Bush bei einem Treffen im Rahmen des Nato-Russland-Gipfels, Pratica die mare, 28. Mai 2002. Bild: Kremlin.ru, CC BY 2.0

Nach 1991 gab es die Chance für eine europäische Friedensordnung. Doch selbst der US-affine Jelzin wurde brüskiert. Was neue Aktenfunde verraten.

Zum 75. Jahrestag der Nato-Gründung veröffentlichte das National Security Archive der George Washington Universität einige bislang geheime Akten, die offenbaren, wie vielversprechend sich Anfang der 1990er-Jahre das Verhältnis zwischen Nato und Russland gestaltet hat.

Die Freundschaft von Bill und Boris

Kurz nachdem am 8. Dezember 1991 die Ukraine, Belarus und Russland in Absprache gemeinsam ihre jeweilige Unabhängigkeit erklärt hatten, trat Michail Gorbatschow zurück und löste sich die einstige Weltmacht Sowjetunion auf. Die beiden Präsidenten Bill Clinton und Boris Jelzin verband schnell eine Freundschaft und sie wurden oft nur "Bill und Boris" genannt.

Vieles ist über die Annäherung zwischen Nato und Russland in diesen Jahren bekannt, doch die Veröffentlichung von vier neuen Dokumenten zeigt weitere Facetten dieser positiven Entwicklung, die angesichts der aktuellen Lage mehr denn je die Frage aufwerfen, warum es nicht gelungen ist die einmalige Chance des Endes des Kalten Krieges zu nutzen und eine dauerhaftere Kooperation und Partnerschaft zu etablieren.

Die drei Säulen des Manfred Wörner

Der damalige Nato-Generalsekretär Manfred Wörner hatte eine ganz zentrale Rolle bei der Gestaltung der deutschen Wiedervereinigung und der Nato-Osterweiterung gespielt. Er hatte bei der deutschen Wiedervereinigung die Idee ins Spiel gebracht, dem Gebiet der DDR einen militärischen Sonderstatus zu geben. Durch diesen Einfall, den der damalige US-Präsident George H. W. Bush übernahm, wurde das Ziel erreicht, eine Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung zu erhalten, ohne zugleich der anfänglichen Bedingung nachgeben zu müssen, dass ein wiedervereinigtes Deutschland neutral sein müsse.

Im Mai 1990 hatte Wörner zudem eine Aussage gemacht, die Wladimir Putin 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz vorwurfsvoll wiederholen sollte: "Allein die Tatsache, dass wir bereit sind Nato-Truppen nicht östlich der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, ist an sich eine feste Sicherheitsgarantie für die Sowjetunion." Im Herbst 1991 machte Wörner sich dann intern für die Aufnahme der baltischen Staaten in die Nato stark.

Am 25. Februar 1992 traf sich Wörner mit dem Sprecher des russischen Parlaments Ruslan Chasbulatow. Zu Beginn des Gesprächs mit Chasbulatow verkündete Wörner seine Vision der gemeinsamen Zukunft und schlug verheißungsvolle Töne an:

Wir sind zweifelsohne daran interessiert, dass Russland floriert, denn in einem Land, in dem es keine Arbeit gibt, herrscht immer Instabilität. (…) Wir wünschen uns eine enge Zusammenarbeit zwischen den Staaten in einem Europa, das aus souveränen demokratischen Staaten besteht. Wie kann dies erreicht werden? Wir wollen ein Europa aufbauen, das in einem neuen Sicherheitsumfeld vom (Ural) bis zum Atlantik leben wird. Es wird eine geeinte euroatlantische Gemeinschaft sein, die auf drei Säulen ruht. Die erste Säule ist der Helsinki-Prozess, die Zweite – die Europäische Gemeinschaft, die die Grundlage für eine solide politische Zukunft unserer Gemeinschaft bilden wird, und die dritte Säule ist die Nato. Genau zu diesem Zweck haben wir den Kooperationsrat im Rahmen der Nato eingerichtet, um enge Konsultationen zu führen, eine Zusammenarbeit aufzubauen und ineinandergreifende Institutionen mit unseren ehemaligen Gegnern und jetzigen Partnern zu schaffen. Dies ist unsere Vision für die Zukunft. Wir möchten, dass Russland und alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten dem Kooperationsrat beitreten.

Chasbulatows Antwort verrät die russische Sensibilität, nicht als gleichwertiger Gesprächspartner wahrgenommen zu werden: "Ich bitte um Entschuldigung, aber ich habe den Eindruck, dass wir von einem Vortrag zu einer Art Dialog übergehen müssen, zumal Sie so gut gesagt haben, dass wir keine Propaganda betreiben sollten."

Aber anschließend sendet Chasbulatow durchaus positive Zeichen für die gemeinsame Gestaltung der Zukunft:

Der Rückgang der Verteidigungsausgaben hat sich sehr stark auf die Umsetzung unserer Wirtschaftsreformen ausgewirkt. Dies ist genau das Ergebnis der Abschwächung der militärisch-politischen Rivalität. In dieser Hinsicht glauben wir, dass der Beitrag des Nordatlantischen Bündnisses sehr bedeutend ist, und wir hoffen auch, dass wir den Weg der Reduzierung der Atomwaffen weiterverfolgen werden.

Partnerschaft für den Frieden

Im März 1994 empfing US-Verteidigungsminister William Perry eine Delegation der russischen Duma, die von Ivan Rybkin, dem Sprecher der Duma geführt wurde. Dieses Treffen fandnur sechs Monate statt, nachdem der russische Präsident Boris Jelzin mit Zustimmung der US-Regierung das eigene demokratisch gewählte Parlament hatte beschießen lassen.

Das Gesprächsmemorandum zeigt die Bereitschaft beider Seiten, in vielen wichtigen militärischen und sicherheitspolitischen Fragen zusammenzuarbeiten. Sei es bei der Reduzierung der Atomwaffen im Rahmen des Start-Vertrags, bei den fortgesetzten Bemühungen zur Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen, bei der friedenserhaltenden Zusammenarbeit in Bosnien und nicht zuletzt bei "der Partnerschaft für den Frieden".

Russland und der Westen: Das Misstrauen war gesät

Dies war ein Vorschlag der USA, den US-Außenminister Warren Christopher Boris Jelzin in einem Gespräch unterbreitete, das eine ganz entscheidende Rolle für das Aufkommen des Misstrauens zwischen Russland und dem Westen spielt.

Die "Partnerschaft für den Frieden", so Christopher, solle allen Ländern der Nato, Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes, allen postsowjetischen Ländern sowie den neutralen Staaten Europas offenstehen. Es werde keinen Versuch geben, jemanden auszuschließen, und es werde auch kein Schritt unternommen werden, um jemanden zu bevorzugen.

In Jelzin Verständnis, der dies als "Geniestreich" bezeichnetet, ersetzte die "Partnerschaft für den Frieden" auf absehbare Zeit die mögliche Nato-Osterweiterung. Für die USA war diese Entscheidung aber weiterhin nicht getroffen.

Der Durchbruch

Am 27. Oktober 1995 berichtete William Perry seinem Präsidenten vom Besuch des russischen Verteidigungsministers Pawel Grachew. Sie hatten zusammen in Kansas eine gemeinsame Militärübung der ehemaligen Feinde mit dem sprechenden Namen "Peacekeeper" beobachtet. Diese Übung sollte ein Einsatz russischer Truppen im Rahmen der Nato-Friedenstruppen in Bosnien dienen.

Das Treffen fand in einer komplizierten Phase der Beziehung zwischen der Nato und Russland statt. Im Dezember 1994 hatte Clinton in Budapest bei der Konferenz der damaligen KSZE, die dort in die "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE) aufgewertet werden sollte, vielsagend verkündet:

Die Nato wird kein Land automatisch vom Beitritt ausschließen. Gleichzeitig wird keinem Land außerhalb der Nato erlaubt, ein Veto gegen die Erweiterung einzulegen.

Damit war ein offiziell grünes Licht für eine Politik gegeben, die Jelzin wiederholt als eine rote Linie bezeichnet hatte: die Nato-Osterweiterung.

Am selben Tag wurde Jelzin vor den mehr als 50 versammelten Staats- und Regierungschefs mehr als deutlich. Konkret an Clinton gewandt, fragte er den Freund:

Noch bevor es Europa gelungen ist, das Erbe des Kalten Krieges abzuschütteln, läuft es Gefahr, in einen kalten Frieden zu stürzen. (…) Die Geschichte zeigt, dass es eine gefährliche Illusion ist, anzunehmen, die Geschicke der Kontinente und der Weltgemeinschaft im Allgemeinen könnte irgendwie von einer einzigen Hauptstadt aus gesteuert werden. (…) Warum säen Sie die Samen des Misstrauens?

Im Mai 1995 war Clinton dann eigens nach Moskau gefahren, um dort gemeinsam mit Jelzin den 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs zu feiern.

Die Stimmung war jedoch alles andere als feierlich, denn Jelzin musste erkennen, dass die Frage der Nato-Osterweiterung eine beschlossene Sache war. Jelzin versuchte zu retten, was zu retten war und fragte Clinton:

Ich möchte ein klares Verständnis für deine Idee der Nato-Erweiterung bekommen, weil ich jetzt nichts anderes als Demütigung für Russland sehe, wenn du weiter machst. Was meinst du, wie es für uns aussieht, wenn ein Block weiterbesteht, während der Warschauer Pakt abgeschafft wurde? Es ist eine neue Form der Einkreisung, wenn sich der eine überlebende Block des Kalten Krieges bis an die Grenzen Russlands ausdehnt. Viele Russen haben ein Gefühl der Angst. Was wollt ihr damit erreichen, wenn Russland euer Partner ist, fragen sie. Ich frage es auch: Warum willst du das tun? Wir brauchen eine neue Struktur für die gesamteuropäische Sicherheit, nicht die alte! (...) Für mich wäre es ein Verrat am russischen Volk, wenn ich zustimmen würde, dass sich die Grenzen der Nato in Richtung Russland erweitern. Ich wäre bereit, über eine Alternative zu sprechen: Sagen wir, dass Russland jedem Staat, der der Nato beitreten will, eine Garantie gibt, dass wir seine Sicherheit nicht verletzen werden. Auf diese Weise hätten sie vom Osten nichts zu befürchten.

Clinton änderte seine jedoch Haltung nicht.

Fünf Monate später trafen sich nun die Verteidigungsminister der USA und Russlands. Perry beschreibt das erste siebenstündige Treffen als "sehr angespannt". Am nächsten Tag beobachteten sie die historische Übung und reisten dann weiter nach Missouri.

Perry beschreibt die besondere Situation dort in seinem Bericht an Clinton:

Grachew und ich drückten gemeinsam den Auslöser (eine Doppeltaste), mit dem ein amerikanisches Silo der Minuteman (einer Interkontinentalrakete – A. W.) in die Luft gesprengt wurde (...) Er hat die historische Symbolik dieser Handlung eines russischen Verteidigungsministers auf amerikanischem Boden voll erfasst. Er sprach voller Emotionen darüber, er wolle sicherstellen, dass seine Kinder und Enkelkinder die Bedeutung dieses Tages verstehen und sich daran erinnern würden.

Perry bezeichnet diesen Augenblick als "Durchbruch".

Perry berichtet dem Präsidenten, der gemeinsame Besuch sei ein voller Erfolg gewesen. Sie erzielten einen Durchbruch bei der Beteiligung Russlands an der Nato-Friedenssicherung in Bosnien und bei der komplizierten Frage der Truppenstärken in den Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa.

In einer handschriftlichen Notiz schreibt der US-Diplomat Strobe Talbott an Perry, nachdem dieser ihn angerufen und über den historischen Durchbruch berichtet hatte:

Ich vermute, dass ich in einem Jahrzehnt noch genauso darüber denken werde: Dies ist eine immens wichtige und positive Entwicklung, die weit über Bosnien hinaus Auswirkungen hat. Alles in allem könnte Ihr Händedruck mit Grachew einer dieser entscheidenden Wendepunkte in der Geschichte sein.

Die Ernüchterung

Leider sollte sich die Prophezeiung Talbotts keineswegs bewahrheiten. Auch wenn es in den Folgejahren (auch unter dem neuen Präsidenten Wladimir Putin) immer wieder zu einer punktuellen Kooperation zwischen der Nato und Russland kam, ist die Welt wieder in einen Kalten Krieg versunken und Russland hat vor zwei Jahren die Ukraine angegriffen.

Die Historiker Svetlana Savranskaya und Thomas Blanton kommentieren die Veröffentlichung der Dokumente einleitend:

Vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine verdeutlichen die neuen Beweise die Tragödie der nicht eingeschlagenen Wege und der unerfüllten Hoffnungen.

Vieles deutet darauf hin, dass eine möglichst genaue Kenntnis der Entfremdung zwischen Russland und dem Westen in den Jahren seit dem Mauerfall und der sowjetischen Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung sowie der Souveränität der Länder des ehemaligen Ostblocks eine Grundvoraussetzung ist, um die Entwicklung der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen besser einordnen und verstehen zu können.

Viel wurde in den letzten Jahren über das Thema der Nato-Osterweiterung geschrieben. Bedauerlicherweise jedoch meistens in einer Schwarz-weiß-Zeichnung mit klaren Schuldzuweisungen. Der Autor erlaubt sich in diesem Zusammenhang auf seinen Versuch einer ausgewogenen Darstellung der Jahre 1989-2008 in Form einer dreiteiligen Feature-Serie auf Deutschlandfunk hinzuweisen. (Die Gorbatschow-Jahre, die Jelzin-Jahre und die Putin-Jahre von 1999-2008)

Nicht ausnutzen

Zum besseren Verständnis dieser komplexen Geschichte sei an dieser Stelle noch auf einen aktuellen Artikel von Jack Matlock verwiesen, der in den Jahren 1987-91 als US-Botschafter in Moskau gelebt hat.

Ende 1988 erklärte Gorbatschow in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, dass die sowjetische Politik auf den "gemeinsamen Interessen der Menschheit" beruhen würde. Dies war eine implizite, aber klare Absage an die Breschnew-Doktrin, die 1968 verkündet und nachträglich die Rechtfertigung für die Invasion des Warschauer Paktes in der CSSR gebildet hatte. Diese Doktrin besagte, dass der Warschauer Pakt das Recht hätte, in jedem Land zu intervenieren, in dem eine "sozialistische" Regierung bedroht sei.

Im Dezember 1989 kam es dann zum ersten Gipfeltreffen zwischen George H. W. Bush und Michail Gorbatschow. In ihrer gemeinsamen Erklärung erklärten sie, dass der Kalte Krieg vorbei sei, dass die UdSSR nicht in Osteuropa intervenieren werde, um einen politischen Wandel zu verhindern, und die USA die sowjetische Zurückhaltung nicht "ausnutzen" würden.

Matlock schreibt: "Präsident Bush bekräftigte diese Verpflichtungen in einem Schreiben an Gorbatschow, das ich bei meiner Rückkehr von Malta nach Moskau überbringen sollte."

Das Weihnachtsgeschenk

An Weihnachten 1989 erhielt Matlock den Hinweis, der stellvertretende russische Außenminister Iwan Aboimow würde anrufen. Es war die Zeit, als die Lage in Rumänien um den Präsidenten Nicolae Ceaușescu hochexplosiv war. (Nur einen Tag zuvor hatten Demonstranten den Präsidentenpalast gestürmt und hatte das Präsidialpaar per Hubschrauber erfolglos zu fliehen versucht).

Matlock schreibt, er erhielt "über eine geheime Telefonleitung einen Anruf des stellvertretenden Sekretärs für politische Angelegenheiten, in dem er mich anwies, Aboimow klarzumachen, dass Präsident Bush, falls die sowjetische Regierung es für notwendig erachte, in Rumänien militärische Gewalt anzuwenden - zum Beispiel, um seine Bürger herauszuholen -, dies nicht als Verletzung ihrer Vereinbarung während des Treffens in Malta betrachten würde."

Im Hinblick auf die US-Invasion in Panama, die zu diesem Zeitpunkt stattfand, kommentiert Matlock: "Damals kam mir nicht in den Sinn - obwohl ich es hätte wissen müssen -, dass hochrangige Beamte in der Bush-Administration tatsächlich hofften, dass es zu einer sowjetischen Intervention in Rumänien kommen würde, um die Wahrnehmungen über das angemessene Verhalten in den jeweiligen Einflusssphären 'auszugleichen'."

Am 24. Dezember 1989 kam es dann zum Telefonat zwischen Matlock und Aboimow. Trotz des Hinweises, dass die USA ein Eingreifen in Rumänien nicht als Bruch der Absprachen einstufen würden, war die Antwort aus Moskau eindeutig. Die UdSSR hatte sich entschieden, weiterhin zu ihrem Wort zu stehen und nicht in Rumänien zu intervenieren. Matlock erinnert sich: "Wir haben Ihnen die Breschnew-Doktrin mit unseren Glückwünschen überreicht. Betrachten Sie sie als Weihnachtsgeschenk."