1/6, der Putschversuch und ein verwundetes Imperium
- 1/6, der Putschversuch und ein verwundetes Imperium
- USA: Putschversuch hätte (Teil-)Erfolg haben können
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Die Gefahr eines Wiedergängers des scheidenden 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten
Das Entsetzen und die Empörung über den rechten Mob, der mehrere Stunden lang das Kapitol in Washington besetzte, dürfte sich bald gelegt haben. Dies ausgerechnet mit "shock and awe", der Losung der US-Truppen im Irak-Krieg 1990 zu vergleichen, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung dies tut, ist angesichts der fürchterlichen Folgen, die die US-Politik im Nahen Osten und anderswo für die Menschen hatte und weiterhin hat, ausgesprochen makaber.1
Die Bilder vom Sturm auf das Kapitol freilich bleiben ähnlich präsent wie die vom 11. September 2001. Wobei die politische Bedeutung von "1/6" auf längere Sicht größer sein könnte als die von "9/11". Es erscheint geboten, den Vorgang vor dem Hintergrund der Krise der bürgerlichen Herrschaft, der Erosion der parlamentarischen Demokratie und des Niedergangs der US-Hegemonie zu analysieren.
Zunächst springt die Art und Weise ins Auge, wie die feierliche Versammlung des US-amerikanischen Kongresses gesprengt wurde. Da versammelt sich das höchste Organ der Legislative in den USA – der United States Congress – zu einer der wichtigsten Sitzungen, die es in einer Legislaturperiode gibt, um feierlich den Ausgang der vorausgegangenen Wahl zum neuen US-Präsidenten zu bestätigen. Anwesend waren so gut wie alle der 435 Abgeordneten und der 100 Senatorinnen und Senatoren. Alle von ihnen sind geübt darin, große Reden zu halten über freedom and democracy und das Land "of the free and the home of the braves", das in der US-Nationalhymne gepriesen wird, zu besingen.
Und dann wird diese ehrwürdige Runde von ein paar Hundert durchgeknallten Trump-Anhängern gesprengt; die Sicherheitskräfte sind konfus, willenlos; einige fraternisieren mit der Meute. Bei den Volksvertretern herrscht Chaos und das individuelle "Rette sich wer kann!" Und nicht ein einziger und nicht eine einzige der gewählten Repräsentanten zeigt Würde und Mut, um die ehrenwerte Runde zu verteidigen und den Mob in die Schranken zu weisen.
Sodann ist festzuhalten: Das war ein im Detail öffentlich angekündigter und erkennbar vorbereiteter Sturm. Der Zeitpunkt und das Ziel standen fest – angekündigt von Trump auf seinem Twitter-Volksempfänger und verkündet direkt vor der Aktion auf einer Kundgebung. Am 20. Dezember setzte Trump einen Tweed ab mit dem Text: "Großer Protest in (Washington) D.C. am 6. Januar. Kommt! Das wird wild!
Am Tag vor 1/6 verbreitete Trump einen weiteren unzweideutigen Tweet mit: "Ich werde morgen auf der 'Save America'-Kundgebung sprechen, ab elf Uhr an der Ellipse. Kommt früh; die Türen öffnen um sieben Uhr. Große Menschenmengen." Und direkt vor dem Sturm, auf der besagten Kundgebung selbst, hetzte der US-Präsident wie folgt: "Unser Land hat genug. (…) Wir werden den Diebstahl stoppen! (…) Gehen wir also die Pennsylvania Avenue entlang. Ich liebe die Pennsylvania Avenue. Wir gehen zum Kapitol."
Social-Media-Multimilliardäre wollten abwarten
Übrigens: Es gab ein Dutzend solcher Mitteilungen in den sozialen Medien. Keine von ihnen wurde zensiert oder gestoppt. Twitter hat nach dem gescheiterten Sturm auf das Kapitol den Account Trumps zunächst gerade mal für zwölf Stunden gesperrt, bevor das Konto dann ganz abgeschaltet wurde. Marc Zuckerberg blockierte Trumps Facebook- und Instragram-Accounts ebenfalls erst nach dem gescheiterten Marsch zum Kapitol.
Das zeigt zum einen, dass die Social-Media-Multimilliardäre abwarten wollten, wie die Sache ausgeht. Zum anderen wirft der Vorgang ein düsteres Licht auf die Medienmacht der asozialen Medien-Konzerne, die sich auch mal gerne zur Vorbereitung eines Staatsstreichs im eigenen Land nutzen lassen.2
Ähnlich wie im Fall des Putschversuchs in Spanien vom 23. Februar 1981, der als aussichtslose Tat eines durchgeknallten Militär, ausgebremst durch das "mutiges Auftreten des spanischen Königs Juan Carlos", bagatellisiert wurde (in Wirklichkeit standen der König und ein führender General selbst hinter dem Putsch) - wird heute 1/6 als Tat eines "narzistisch entrückten" US-Präsidenten, der "seine Niederlage und damit auch nicht den demokratischen Wettbewerb akzeptieren kann", kleingeredet. Dabei habe sich an diesem 1/6-Tag ja auch "die Widerstandskraft der amerikanischen Institutionen" gezeigt, was "optimistisch (stimme)", so ein Leitartikel in der "Welt".3
In Wirklichkeit handelte es sich – durchaus ähnlich dem Putschversuch in Spanien, der dann dort auch als autogolpe, als "Selbst-Putsch" bezeichnet wird – um einen Putschversuch durch den US-Präsident Donald Trump selbst.4
Und dieser Versuch, durch eine gewaltsame Aktion an der Macht zu bleiben, war keineswegs von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es gab ein halbes Dutzend Faktoren, die für Trumps Sache – eher zufällig – schlecht liefen, weswegen der Umsturzversuch kläglich scheiterte und weshalb nun Trump als vollkommen deppert hingestellt werden kann.
- Da war die US-Präsidentschaftswahl selbst, die mit 46,8 zu 51,3 Prozent keineswegs ein Erdrutschsieg Bidens war. Da waren mehrere Swing States, die mit äußerst knappen Ergebnissen Biden zufielen.
- Da gab es die Möglichkeit, dass sich bei Nachzählungen Ungenauigkeiten ergeben konnten, was die Möglichkeit einer Neuwahl befördert, in jedem Fall aber die Autorität des Wahlergebnisses noch stärker allgemeinen Zweifeln ausgesetzt hätte.
- Da gab es die Gefahr, dass das Wahlergebnis in einzelnen, republikanisch regierten Bundesstaaten von den in diesen Staaten verantwortlichen Stellen auch offiziell angezweifelt worden wäre.
- Dann gab es die Gefahr, dass der mit einer Trump-Mehrheit ausgestattete Supreme Court sich zugunsten einer Wahlwiederholung eingeschaltet hätte.
- Es gab die Wahl im Bundesstaat Georgia, die erneut mit einer äußerst knappen Mehrheit für die Demokraten endete.
- Und nicht zuletzt gab es die Gefahr, dass der Vizepräsident Mike Pence, der vier Jahre lang eisern zu Trump gehalten und der alle seine frivolen Kapriolen und zynischen Lügen verteidigt hatte, sich im Kongress, wie von Trump gefordert, weigern würde, das Wahlergebnis anzuerkennen.
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